Die Wiederkehrer
die hatte er nun erledigt. Feierabend. Man konnte von ihm nicht erwarten, im Urlaub mehr als drei Stunden zu arbeiten.
Nur so … nur um … frische Luft zu schnappen, suchte Niko den Balkon auf und lauschte. Kein Tippen. Er lehnte sich über das Geländer und spähte runter. Bernd hatte sich offenbar mit dem Laptop ins Innere der Wohnung zurückgezogen. Schade.
Nervös, aufgeregt und unentschlossen lief Niko in seinem Wohnzimmer auf und ab. Er fand keine Ruhe. Das Fernsehen langweilte ihn und von Computerspielen wollte er aktuell auch nichts wissen. Vielleicht sollte er es mit lesen versuchen? Seit er erfahren hatte, dass Bernd Romane schrieb, übte die Vorstellung davon eine gewisse Faszination aus. Nikos Blick fiel auf den dicken Schmöker von Tolkien. Jemand hatte ihm diese Ausgabe vor Tagen zum Geburtstag geschenkt. In diesem Jahr war mit der Verfilmung des ersten Teils der Hype losgegangen. Kurz entschlossen und mit einer etwas romantischen Vorstellung davon, wie es war auf dem Sofa zu liegen und zu lesen, legte er los.
Nach wenigen Seiten klappte Niko das Buch zu. Mal abgesehen davon, dass er sich aufgrund der Filme etwas ganz anderes erwartet hatte, konnte er sich nicht richtig konzentrieren. Der Kuss. Auch wenn er schon drei Tage her war, beschäftigte er Niko. Immer wieder spulte er diese Minuten vor seinem inneren Auge ab, fühlte den Erinnerungen nach und nicht nur einmal endeten diese Schwelgereien mit der Hand am Schwanz. So geil Niko die Vorstellung machte, Bernd wieder so nahe zu kommen – so groß war auch die Angst davor. Die Intensität der Gefühle, die sein Nachbar in ihm entfachte, lieferten Niko aus. Er war nicht Herr seiner selbst, solange er in Bernds Nähe war. Nie hätte sich Niko vorstellen können, so bald schon einen Mann zu küssen – und dabei so …
abzugehen.
Vor allem sein spontaner Orgasmus bereitete Niko Schuldgefühle. Hätte er sich nicht …
revanchieren
müssen? Er war danach mehr oder weniger einfach abgehauen. Wartete Bernd vielleicht seitdem darauf, dass er … ihn zum Ausgleich auch befriedigte? Hatte er
das
mit
fortführen
gemeint? Aber wie stellte sich Bernd das vor?
Was
genau erwartete er von Niko?
Die Angst davor, das herauszufinden, hatte ihn dazu gebracht, sich vor seinem Nachbar zu verstecken. Die Sehnsucht und der Wunsch, diesem Mann noch einmal nahe zu kommen, sich an ihn zu schmiegen, ihn zu küssen – hatte ihn aber immer wieder, wenn auch heimlich, auf den Balkon getrieben. Dort hatte er Bernd bei der Arbeit gelauscht, sich aber nicht bemerkbar gemacht. Niko hatte Angst, dass dieser Forderungen stellen könnte, die er nicht erfüllen konnte, oder wollte. Und doch – so verwirrend es war – Niko wollte Bernd nackt sehen. Er konnte nicht genau sagen warum – er wollte nicht Sex haben, noch nicht – aber er versuchte sich diesen Mann ohne Kleidung vorzustellen. Ob er am Körper behaart war? Ob er definierte Muskeln hatte? Wenn ja, war das gut? War es schlecht? Wäre Niko abgestoßen davon, wenn Bernd einen sehr männlichen Körper hätte? Oder würde es ihn – ganz im Gegenteil – scharf machen? Alles war möglich, nichts davon konnte Niko definitiv ausschließen oder mit Bestimmtheit zustimmen. Und natürlich – er dachte über Bernds Schwanz nach. Noch nie hatte Niko einen anderen als seinen eigenen in der Realität aus der Nähe gesehen, geschweige denn angefasst. Okay, in Pornos hatte er schon viele Schwänze gesehen, viele Erektionen – aber das war sicher etwas völlig anderes, als direkt davorzustehen und sich darum …
kümmern
zu müssen.
Niko sprang hoch. Er musste etwas tun, sonst drehte er hier noch durch. Stundenlang die Aspekte seines nun womöglich homosexuellen Lebens zu erörtern, brachte ihn auch nicht weiter. Es verwirrte ihn nur. Was nützte es, ständig zwischen Angst und Neugier hin und her zu schwanken? Was nützten alle
'was wäre wenn'
-Überlegungen? Wie auch immer, und wann auch immer – der vermutlich sinnvollste Weg, seine Fragen zu beantworten, würde sein, es auszuprobieren. Aber nicht jetzt.
Niko erinnerte sich an sein Vorhaben, Sport zu betreiben um fit zu bleiben und seinen ansehnlichen und noch athletischen Körper zu behalten. Die mitunter harte körperliche Arbeit in der Druckerei würde irgendwann eben nicht mehr reichen, schlank und gut gebaut zu bleiben. Keine Marshmallow-Figur mehr! Niko könnte eine Runde joggen gehen. Das half sicher auch gegen das Gefühl, jeden Moment gegen die Decke zu springen.
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