Die Wiederkehrer
unter ihm. Und jetzt? Er müsste nur loslassen und mit einem kleinen Sprung wäre er in Sicherheit. Wenn er aber einen Rückwärtsdrall bekäme, würde er in den sicheren Tod kippen. Die Hände wollten ihm nicht gehorchen, ballten um die Streben Fäuste. Verdammt. Was war das nur für eine hirnrissige Idee gewesen! Niko versuchte sich mit aller Kraft wieder hochzuziehen, aber es gelang ihm nicht. Allmählich bekam er Panik. Es ging nicht vor und nicht zurück. Er hing hier über dem Abgrund und langsam verließ ihn die Kraft.
War das das Ende seiner zweiten Chance? Hatte er nur zwei Wochen bekommen?
Plötzlich öffnete sich die Balkontür, Bernd stürmte heraus, schlang die Arme um Nikos Hüften und hielt ihn fest. Erst da konnte Niko loslassen und sank in Bernds Arme. Die Haut in den Handflächen brannte wie Feuer, die Beine waren teigweich und Niko zitterte vor Aufregung. Sie sanken zusammen auf die Knie, hielten sich in wortloser Umarmung, drückten sich so fest aneinander, wie sie nur konnten. Bernd hauchte Niko kleine Küsse auf den Hals, weiter über die Wangen, suchte die Lippen. Er eroberte Nikos Mund, verzweifelt, gierig, suchte die Zunge, lud sie zu einer leidenschaftlichen Verschmelzung. Erst danach schalt er:
„Was war das für eine bescheuerte Aktion! Du hättest dir das Genick brechen können!“
„Du hast nicht auf mein Läuten und Klopfen reagiert!“, entgegnete Niko mindestens ebenso empört.
„Ich hatte Kopfhörer auf“, erklärte Bernd, „Mach das
nie wieder
, du hast mich zu Tode erschreckt!“
„Du mich auch!“, rief Niko und schlang die Arme um Bernd.
„Ach, … Niko“, nuschelte dieser und streichelte mit warmen Händen zärtlich über dessen Kopf und Rücken, bis Niko ein wohliger Schauer ereilte
„Ich habe so viele Fragen, Bernd, so viele Frage“, murmelte Niko, löste sich etwas aus der Umarmung und glubschte Bernd an. Dieser lächelte bloß, strich mit dem Fingerrücken sanft über Nikos Wange und sagte:
„Komm … komm rein.“
Ich bin so wild nach deinem …
Während Bernd aus der Küche etwas zu trinken holte, schlenderte Niko durchs Wohnzimmer und ließ den Blick umherschweifen. Auf dem Tisch stand der Laptop und daneben lagen riesige Kopfhörer – fast so, wie Leute sie in Musikstudios benutzen. Aus ihnen drang leises Getüdel. Bernd hatte sich nicht damit aufgehalten, den Audioplayer abzustellen, als er Niko auf dem Balkon hatte herumturnen sehen. Mit einem kurzen Blick vergewisserte sich Niko, ob Bernd zu ihm herschaute. Dieser hatte ihm den schönen, wohlgeformten Rücken zugewandt und war mit Kühlschrank, Gläsern und Coke beschäftigt. Niko hob die Kopfhörer auf und lauschte. Was hörte Bernd so für Musik, wenn er schrieb?
Es war …
'Pink Floyd'
. Niko war überrascht. Nicht darüber, dass es diese Band war, die Bernd hörte, sondern darüber, dass man dazu schreiben konnte. War das nicht eine viel zu dichte, viel zu fordernde Musik? Niko hatte sie erst zu schätzen gelernt, als er Mitte Zwanzig gewesen war – aber nie hätte er dazu arbeiten können. Eher hatte er dazu herumgelegen und sich Tagträumen hingegeben. Mal ganz abgesehen von dem filmischen Meisterwerk
'The Wall
'.
Niko fuhr erschrocken hoch, als die Musik plötzlich ausging, weil der Laptop grob zugeklappt wurde. Rasch nahm er die Kopfhörer ab und starrte Bernd ertappt an.
„Wie kommst du dazu, das zu lesen?“, fuhr dieser ihn ungehalten an. Lesen?
„Ich habe nur wissen wollen, welche Musik das ist“, rechtfertigte sich Niko. „Ich hab nicht gelesen. Das würde ich nie tun!“ Das war wohl nicht ganz richtig. Niko hatte nicht bemerkt, dass er durch das Aufsetzen der Kopfhörer unbeabsichtigt den Bildschirmschoner beendet hatte und offenbar hätte lesen können, was Bernd soeben geschrieben hatte.
„Ich mag nicht, wenn jemand Texte liest, die ich noch nicht freigegeben habe“, brummte Bernd in einem nun versöhnlichen Tonfall. „Ich wollte dich nicht … wie gefällt dir die Musik?“
„Klasse!“ Oh Mann,
'Klasse'
, wie alt war Niko denn? Okay, für einen Zwanzigjährigen war
'Klasse'
vermutlich eine adäquate Reaktion, aber eigentlich hätte er zu dieser Musik wesentlich mehr zu sagen. Doch so intensiv wie Bernd ihn ansah, flatterte alles Wissen davon und hinterließ lediglich leere Sprossen in Nikos Gehirn.
„Ja …“, murmelte Bernd, „… die sind Klasse.“
Sie blickten verlegen auf den Tisch und ihrer beider Aufmerksamkeit verfing sich in dem Zettel,
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