Die Wiederkehrer
weh. Niko seufzte. Ihm gelang es nicht, wütend auf Bernd zu sein. Verletzt, ja, verstört und traurig – aber er konnte nicht sauer auf ihn sein. Er wollte einfach nur wissen, was passiert war, ihn umarmen, küssen … ach, es reichte fürs erste schon, ihn einfach nur zu sehen – mit verschränkten Armen an den Türrahmen gelehnt. Es reichte, sein Lächeln zu erleben, die Falten, die dabei an den Wangen und um die Augen entstanden, das Funkeln in seinen Augen, diese scheue und zugleich souveräne Art. Niko brauchte noch ein Bier. Eins noch – nur um das Loch in seinem Herzen zu füllen und die Dämmerung zu genießen.
Eine wunderschöne, laue Nacht senkte sich über die Stadt und der Mond kletterte auf den Sternenhimmel, größer als sonst, und war in eine zartes Orange gefärbt. Eine magische Nacht. Niko wurde ganz sentimental, romantisch, seufzte ohne Ende, vernichtete ein Bier nach dem anderen. Er wünschte sich, diese schöne Nacht mit Bernd erleben zu dürfen, neigte sich immer wieder übers Geländer, um sich zu vergewissern, dass dieser nicht da war. Ein weiteres Bier konnte nicht schaden – das Loch im Herz war
wirklich
groß! Niko wankte zum Kühlschrank, da kam ihm die Idee – und sie schien in diesen Sekunden regelrecht essentiell – seine Hetero-Pornos zu entsorgen. Gleich morgen auf dem Heimweg von der Arbeit würde er sich
richtige
Magazine und Filme holen. Mit Männern, jawohl! Geilen, schönen Männern. Er hatte in dieser Hinsicht ja nun etwas aufzuholen, und wenn Bernd nicht wollte, dann musste er eben selbst Hand anlegen. So war das. Sich mit anderen Männern einlassen, soweit war Niko noch nicht.
Warum er einen schwarzen zweihundertfünfzig Liter Müllsack dafür verwendete, seine spärliche Sammlung zu entsorgen, wusste er selbst nicht so genau. Eventuell hatte er sich ein bisschen verschätzt, da seine Sachen gerade mal den Bodensatz des Sackes füllten. Nun, in der Erinnerung ist manches wohl verzerrt. Den Sack wie ein überdimensionales Kondom hinter sich herziehend, suchte Niko nach weiteren Relikten seines heterosexuellen Lebens, riss Poster mit Frauenmotiven von den Wänden und philosophierte eine halbe Ewigkeit über seinem Fußball. Dem Alkoholspiegel zuzuschreiben war wohl, dass ihm dieser nun wie der fundamentale Scheideweg zwischen seinem heterosexuellen und seinem homosexuellen Leben vorkam. Die Entscheidung fiel ihm allerdings schwer, da er nicht genau wusste, ob ein Ball nun für Hetero stand oder für Homo. Elf schöne, trainierte Männer auf dem Spielfeld, die einander umarmten, sich aneinander rieben, einander sogar küssten und über den Rasen wälzten – danach gemeinsam nackt duschten … andererseits aber hatte Fußball doch
das
Machoimage schlechthin.
Da fiel Nikos Blick auf die zerfledderte Schulausgabe des Cyrano de Bergerac. Niko hatte sich bisher zwar nie für Literatur begeistern können und Theaterstücke fand er einfach nur affig, aber die Leiden des Cyrano hatten es ihm einst angetan. Das war zu der Zeit gewesen, als er heimlich in Hanna verschossen gewesen war und er damals das Gefühl gehabt hatte, das Buch wäre wie für ihn geschrieben gewesen. Ganz klar war er die gepeinigte, poetische Seele Cyrano, der blöde Jürgen war Christian und Hanna natürlich die reine Roxane. Zwar hatte Niko keinen Zinken, aber der war doch ohnedies nur symbolisch für die anderen Unzulänglichkeiten – und was das betraf, fühlte sich Niko wie die Unzulänglichkeit in Person.
Und heute, da Niko
wieder
verliebt war? War er nun immer noch der wortgewandte Cyrano, oder nicht doch eher der dümmlich, notgeile Christian, oder aber gar die völlig verpeilte Roxane? Und Bernd? Niko ließ seine Heten-Säuberungsaktion fürs Erste sein und tappte mit dem Heftchen in der Hand auf den Balkon, legte sich auf das Badetuch, öffnete eine weitere Flasche Bier mit den Zähnen und begann zu lesen. Bald hatte er sich an den Rhythmus und die Reimform gewöhnt und je mehr er las, umso mehr war ihm, als platze gleich sein Herz.
Mit tiefen Seufzern blätterte er von Seite zu Seite, ließ zwischendurch den Blick über die Lichter der Stadt schweifen und leerte die Flasche Bier, dann noch eine. Rostand inspirierte ihn, beflügelte ihn, machte ihn übervoll von Sehnsucht, war genau das Richtige für seine Liebespein – wie damals schon, als er unglücklich in Hanna verliebt gewesen war. Nur, dass er dieses Mal einen guten Freund dabei hatte, der ihm half, die Sache wie ein Mann zu ertragen:
Weitere Kostenlose Bücher