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Die Wiege des Windes

Titel: Die Wiege des Windes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Hefner
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waren wieder abgetaucht. Alle, bis auf einen.
    »Manchmal glaube ich, Larsen hat recht«, murmelte Rike, während sie in einiger Entfernung zusahen, wie der Walfänger seinen mittlerweile leblosen Fang längsseits zog. »Es reicht nicht, sie abzudrängen. Versenkt müssten sie werden.«
    »Was meinst du?«, fragte Jean mit französischem Akzent.
    »Ach, nichts … Ich dachte gerade nur an einen Freund von mir«, antwortete Rike.
    »Okay, there’s nothing more to do, let’s go back«, sagte Bob.
    Mit feuchten Augen wandte sich Rike ab. Die Arctic Sunrise wartete auf sie.
    *
    Dr. Thomas Esser, stellvertretender Direktor der Bezirksregierung Weser-Ems, war Landtagsabgeordneter der Grünen gewesen, bis er bei der letzten Wahl seinen Sitz verlor und an seinen Schreibtisch nach Oldenburg zurückkehren musste. Er hatte noch immer sein Parteibuch und war von den Programmen seiner Partei überzeugt. Vor allem lag ihm der Schutz der Küste und des Wattenmeers am Herzen. Nun stand er der Nationalparkverwaltung Wattenmeer in Wilhelmshaven vor. Vielleicht, so dachte er oft, war es ein Wink des Schicksals, dass er seinen Platz im Landtag hatte aufgeben müssen. Als verantwortlicher Leiter der Nationalparkverwaltung konnte er viel mehr für die Umwelt und seine Überzeugungen tun.
    Obwohl es seit dem gestrigen Abend in Oldenburg regnete, war er wie jeden Tag mit seinem Fahrrad von Bürgerfelde zur Arbeit gefahren. Wenn es auch kalt und ungemütlich war, diesen aktiven Beitrag zum Schutz der Umwelt ließ er sich nicht nehmen. Den Bus benutzte er nur, wenn die geschlossene Schneedecke das Radfahren nicht mehr zuließ.
    Vor vielen Jahren, als er noch jung und ungebunden gewesen war, mit langen Haaren und mit grünem Parka, hatte er Stunden im Wind und im Regen zugebracht. In Camps, in wilden Lagern und Zelten. Vor Gorleben, an der Startbahn West bei Frankfurt oder im Hamburger Freihafen, er hatte keine Gelegenheit ausgelassen, den Regierenden sein klares »Nein« zu ihren Entscheidungen entgegenzuschreien.
    Vielleicht war er reifer geworden – oder vielleicht resultierte die Verlagerung seiner Aktivitäten aus einem längeren Gespräch mit seinem Vater, der ihm unmissverständlich klar gemacht hatte, dass er kein Geld mehr erhalten werde, wenn er sich nicht endlich selbst um seine Zukunft kümmerte. Natürlich hatte zunächst der Rebell in ihm gesiegt, schließlich gehörte sein Vater als erfolgreicher Zahnarzt dem Establishment an, das er damals zutiefst verachtete. Letztlich siegten die Einsicht, der Hunger und die Vernunft.
    Er hatte Jura studiert – denn »Biologie hat keine Zukunft!«, hatte sein Vater getönt – und gelernt, seine Ideologien in demokratischer und konstruktiver Form zu vertreten. Er heiratete, tauschte den grünen Parka mit einem dunklen Anzug. Machte sein Praktikum am Amtsgericht in Oldenburg, knüpfte Kontakte und begann seine Karriere bei der Bezirksregierung. Und nach dem kurzen Ausflug in die Landespolitik hatte ihm nun der Bezirksdirektor die Aufsicht über die Nationalparkverwaltung Niedersächsisches Wattenmeer in Wilhelmshaven übertragen. Eine Aufgabe, die er mit Freude übernahm.
    Sein Dienstsitz blieb in Oldenburg, doch jetzt hatte er endlich das Gefühl, in seine Vergangenheit zurückgekehrt zu sein. Er war seinen Überzeugungen und seinen Prinzipien wieder ganz nahe.
    Doktor Thomas Esser fuhr mit seinem Rad über den freien Platz, vorbei am schmucklosen Tannenbaum mit den hellen Glühbirnen, der in aller Eile aufgestellt worden war, und wunderte sich, dass vor dem Haupteingang zwei Streifenwagen und ein grauer Audi standen. Was war hier passiert?
    *
    »Da ist er ja endlich!« Horst Liebler zeigte auf den hageren Hünen, der die Halle durch die Glastür betrat und auf die Aufzüge zuging.
    Kriminaloberrat Kirner wandte sich um. »Das ist Doktor Esser?«, fragte er den Verwaltungsbeamten.
    Liebler nickte und hielt Esser auf. »Stell dir vor, was passiert ist! Sie haben eine Briefbombe in der Post gefunden. Wir mussten alle unseren Arbeitsplatz räumen, bis das Kuvert abtransportiert war. Alles war in heller Aufregung.«
    »Guten Morgen, Herr Doktor Esser.« Kirner streckte dem Leiter der Nationalparkverwaltung seinen Dienstausweis entgegen. »Mein Name ist Kirner, ich bin vom Landeskriminalamt. Ist es möglich, dass wir uns irgendwo ungestört unterhalten?«
    Mit dem Aufzug fuhren sie in den zweiten Stock, dort befand sich Essers Büro.
    »Kann ich erfahren, was genau passiert ist?«, fragte

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