Die Wiege des Windes
landete mit zwei Stunden Verspätung. Rike war froh, endlich wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Der Flug von Perth nach Frankfurt am Main hatte über fünfzehn Stunden gedauert. Zum Glück war die Zugverbindung zwischen Frankfurt und Bremen so gut ausgebaut, dass sie trotz der Verspätung noch heute einen Zug erwischen konnte. Von Bremen würde sie schon irgendwie nach Wilhelmshaven kommen. Sie war müde, ihre Beine schmerzten und außerdem hatte sie kaum mehr als fünfundzwanzig Mark und ein paar australische Dollars in ihrer Geldbörse. Im Flugzeug hatte sie sich kurz vor der Landung noch einmal satt gegessen. Die Zugfahrkarte war bereits bezahlt und von Bremen konnte sie auch trampen. Sie war kein ängstlicher Typ. Und sie würde sich zu wehren wissen, sollte jemand zudringlich werden. Schließlich war sie Trägerin des schwarzen Gurtes in Karate.
Rike war achtundzwanzig Jahre alt und als einziges Kind eines reichen Kieler Kaufmanns, der sich innig einen Sohn gewünscht hatte, wie ein Junge aufgewachsen. Puppen und schöne Kleidchen waren tabu gewesen. Sie hatte schon im Kindergarten so manchen Zwist mit ihren männlichen Artgenossen ausgetragen. Und meist war sie die Siegerin geblieben. Eine Amazone eben, hatten die Freunde der Familie lächelnd gesagt. Sie hatte Leichtathletik betrieben und Kampfsport erlernt und später in den Fitnesscentern die Hantelbank der Sonnenbank vorgezogen. So war sie eine kräftige und schlagfertige junge Dame geworden. Ihr Aussehen mit der schwarzen Bubikopffrisur hatte oft dazu geführt, dass sie für einen Jungen gehalten wurde. Für sie war es eine Bestätigung. Nur ihrer Mutter missfiel es von Zeit zu Zeit. Du bist ein Mädchen, lass dir doch mal deine Haare lang wachsen, hatte die Mutter oft gesagt, doch Rike hatte nur den Kopf geschüttelt und war in die Arme ihres Vaters geflüchtet, den sie abgöttisch liebte und der viel zu früh sterben musste.
Später hatte sie Meeresbiologie in Kiel studiert und ihren Abschluss mit Bestnote gemacht. Rike war in allen Dingen, die ihr wichtig erschienen, ehrgeizig.
Vielleicht hatte sie deshalb vor fünf Wochen diesen heftigen Streit mit Larsen gehabt. In letzter Zeit hatte er sich verändert. Und Rike wusste, dass es an diesem Gift lag. Es machte ihn nicht nur abhängig, sondern auch habgierig. Wenn er kam, um sich von ihr Geld zu borgen – Geld, das er sowieso nicht mehr zurückzahlen konnte – kam sie sich nur noch ausgenutzt vor. Als er ihr dann auch noch die Reise nach Australien mit allerlei fadenscheinigen Gründen madig machen wollte, um sie eine Atempause später um dreitausend Mark anzupumpen, hatte sie ihn hinausgeworfen.
Jetzt, nach diesen Wochen in der Kälte der Antarktis, tat es ihr fast ein wenig leid. Im Grunde genommen hatte Larsen recht gehabt. Acht Rettungseinsätze für die Wale waren sie gefahren, doch nur ein einziges Mal war es ihnen gelungen, die Jäger von ihrem Vorhaben abzubringen. Der Preis dafür war hoch gewesen. Ein zerstörtes Schlauchboot, Knochenbrüche, Prellungen – und beinahe hätte Bob sogar mit seinem Leben dafür bezahlt.
Nachdem Rike die Passkontrolle hinter sich gebracht und ihren Koffer am Zoll geöffnet hatte, fuhr sie auf den Rolltreppen hinunter zu den Bahngleisen. Die unzähligen Menschen in der Ankunftshalle flößten ihr Unbehagen ein. Sie wäre jetzt am liebsten alleine gewesen. Vielleicht sollte sie noch mal mit Larsen reden. Auch wenn er sich seit Wochen nicht mehr bei ihr gemeldet hatte.
Ein einsamer Weihnachtsbaum stand neben der Rolltreppe. Einige seiner Glühbirnen waren bereits defekt. Achtlos ging Rike vorüber auf dem Weg zu ihrem Zug.
*
Der Kahle saß zusammengesunken auf dem Rand der Badewanne seiner Hotelsuite in Bremen und strich sich mit fahrigen Fingern über die Glatze. Es war mitten in der Nacht, draußen stürmte es. Ihm liefen kleine Schweißperlen über die Stirn. Irgendjemandem schien es eine infernalische Freude zu bereiten, ihm ständig Steine in den Weg zu rollen. Zum ersten Mal in seinem Leben empfand er so etwas wie Angst. Selbst als Kind war ihm nie so jämmerlich zumute gewesen. Das kam dabei heraus, wenn man sich mit den Falschen einließ. Er wusste, dass sein Leben an einem seidenen Faden hing. Keine seiner Erklärungen würde die anderen daran hindern, das mit ihm zu tun, was auch er mit einem Betrüger tun würde. Selbst wenn er jetzt einfach in ein Flugzeug stieg, sie würden ihn in jedem Winkel der Erde finden. Nur wenn alles gut
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