Die Wiege des Windes
Themen von ihr untersucht worden waren. Sanfter Tourismus und dessen Auswirkungen auf die küstennahen Zonen. Ökonomische Nutzung des Wattenmeers in Betracht auf Flora und Fauna. Einfluss von Industrieanlagen auf die Hellerwiesen und die Marsch. Die Schifffahrtsrouten und das Robbensterben. Das Ausbleiben der Seehundpopulation im Roten Sand und die Auswirkungen der Felderbewirtschaftung auf den Bewuchs im Küstengebiet. Offenbar hatte sie sich große Mühe bei ihren Forschungsarbeiten gegeben. Eine intelligente und gescheite Frau. Sie hatte ihr Studium mit einer Traumnote abgeschlossen. Bestimmt war nur ihr zwielichtiges Privatleben daran schuld, dass sie nicht bereits bei irgendeiner staatlichen Stelle oder einem renommierten Labor arbeitete.
Besonders die letzte Seite ihrer Ausarbeitung war ein gefundenes Fressen für die Staatsanwaltschaft. Denn dort warf sie der Nationalparkverwaltung schwere Versäumnisse und falsche Entscheidungen vor, die in absehbarer Zeit die Natur irreparabel schädigen würden. Als Beispiel führte sie die Genehmigung des Ausbaus der Schifffahrtswege in der Alten Weser an, die ungeahnte Auswirkungen auf den Vogelbestand auf Mellum hätten. Aber auch die Rückstufung einiger Flachwassergebiete von der Schutzzone II in die Kategorie IV und die damit verbundene Zulässigkeit einer eingeschränkten wirtschaftlichen Nutzung sowie die Aufhebung einiger Verbote, die noch aus der Zeit des großen Robbensterbens Ende der achtziger Jahre stammten, wirkten sich nachteilig auf die Robbenpopulationen im Wattenmeer aus. Zu guter Letzt machte sie eine verfehlte Politik für das Desaster verantwortlich und forderte ultimativ die Rücknahme sämtlicher in den letzten Jahren getroffener falscher Entscheidungen. Unterschrift: Friederike van Deeren.
Sollten jetzt auch noch ihre Fingerabdrücke oder DNA-Spuren auf dem Briefbomben-Kuvert zu finden sein, dann wäre alles andere als eine Verurteilung ein Wunder. Bereits jetzt hätte das Material für einen Haftbefehl ausgereicht. Doch angeblich war Friederike van Deeren in Australien. Selbst wenn dieses Alibi stimmen sollte, konnten Komplizen das Kuvert zugestellt haben. Das würden die Ermittlungen schon noch ergeben. Dennoch zögerte Kirner. Bei jedem anderen Fall hätte er bereits mit dem Staatsanwalt telefoniert, einen Haftbefehl erwirkt und die Frau zur Fahndung ausgeschrieben, doch sein Gefühl sagte ihm, dass er noch warten sollte.
*
»Sauter hat abgesagt?!« Trevisan schlug mit der Faust auf den Tisch. »Ich glaube, ich spinne! Hat abgesagt, der feine Herr. So wie man ein Kaffeekränzchen absagt oder nicht zum Kurkonzert erscheint. Der hält sich wohl für etwas Besseres! Er ist aber noch nicht versetzt und gehört nach wie vor zu unserer Abteilung. Verdammt noch mal, wir haben da draußen eine Leiche!«
Johannes Hagemann schaute Trevisan unterwürfig an. »Was will ich machen?«
»Lutger ist tot und du bist jetzt der Chef«, antwortete Trevisan ungehalten. »Du wirst ihn jetzt noch einmal anrufen und ihn herzitieren.«
Johannes Hagemann schüttelte verlegen den Kopf. »Das ist nichts für mich. Ich bin kein Chef. Und nur weil ich der Älteste bin, schon zweimal nicht.«
»Verdammt, Johannes! Seit Monaten tanzt der schon aus der Reihe. Jetzt reicht es ein für alle Mal. Ich werde mir den Kerl zur Brust nehmen.« Trevisan ging zum Telefon.
»Aber denk doch an die Folgen«, hielt ihn Johannes zurück. »Bald geht er auf diese Schule und dann kommt er am Ende noch als dein Chef zurück. Und sein Onkel ist Staatssekretär.«
»Und wenn er Kaiser von China wäre! Das lassen wir uns nicht gefallen. Jeder von uns hätte heute Termine. Es ist schließlich Weihnachten.«
Die Tür wurde aufgestoßen und Dietmar Petermann betrat das Zimmer, im dunklen Anzug und einem weißen, mit Rüschen besetzten Hemd. Dazu trug er eine orangegrün gemusterte Krawatte. Er blickte griesgrämig drein. »Verdammt, ausgerechnet heute! Dabei hätte ich einen kleinen Solopart zu singen. Das macht jetzt Frieder. Wofür habe ich wochenlang geübt?«
»Tut mir leid«, antwortete Johannes. »Aber wir brauchen jeden Mann. Wir haben eine männliche Leiche.«
»Und die Suche nach seiner Identität wird schwierig«, warf Trevisan ein. »Der gute Mann hat nämlich keinen Kopf mehr.«
»Enthauptet?«
»Nicht direkt«, erklärte Hagemann. »Ein Bootsmotor hat ihm den halben Kopf zermatscht. Da ist nicht mehr viel übrig.«
»Absichtlich?«
»Das sollten wir seinen Mörder
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