Die Wiege des Windes
der alten Holztreppe. Jemand ging die Stufen hinunter.
Sie rannte in das Wohnzimmer, immer bedacht darauf, keinen Lärm zu verursachen. Verborgen hinter dem Vorhang beobachtete sie die Straße, die im Schimmer der Laternen unter ihr lag. Ein Mann, dunkel gekleidet, etwa einen Kopf größer als sie und muskulös, ging auf den BMW zu. Auf der Beifahrerseite blieb er kurz stehen und schaute in ihre Richtung. Erschrocken zog sie den Kopf zurück. Das Gesicht des Mannes lag im Dunkeln, aber im Widerschein der Straßenlaternen und einer Weihnachtsgirlande am Geschäft gegenüber hatte sie ein glänzendes Brillengestell erkannt.
Sie ließ sich zu Boden gleiten und spähte erneut aus dem Fenster. Der Mann stieg in den Wagen. Das Auto fuhr unter ihrem Fenster vorbei und bog in Richtung Kirche ab. Sie hatte vergebens gehofft, einen Blick auf die Gesichter zu erhaschen.
Verdammt, was sind das nur für Typen, fragte sie sich. Sie überlegte fieberhaft. Es blieb nur eine Erklärung: Larsen. Bestimmt waren sie hinter ihm her. Sie wusste, dass er sich nicht nur mit Gras und Shit begnügte, sondern auch diesem synthetischen Zeug verfallen war, diesem Dreck aus den Labors der neuen Dealergeneration. Deswegen hatte er sich verändert und deswegen hatten sie in letzter Zeit oft Streit gehabt. Sie dachte an Maikes Worte. Eine große Sache, was mochte das sein? Schuldete er den Männern Geld? Das wäre typisch für ihn. Zwei Mann in einem großen BMW mit ausländischem Kennzeichen – diese Typen wollten nicht nur reden, die würden auch handeln.
Sie würde keine Minute länger in dieser Wohnung bleiben. Und sie musste unbedingt Larsen finden, jetzt.
Ihre Müdigkeit war verflogen. Fünf Minuten später verließ sie die Wohnung. Heimlich schlich sie sich durch die Hintertür. Sie nahm ihr altes Fahrrad und fuhr den Alten Postweg hinauf. Der BMW war verschwunden.
*
Kriminaloberrat Kirner war an diesem Tag früh im Büro. Der Feiertag war deutlich zu spüren. An den Ampeln hatte er nicht lange warten müssen und Parkplätze gab es in Hülle und Fülle. Es kam ihm vor, als wäre er der Einzige, der zum Dienst musste. Eigentlich kam ihm die Arbeit gerade recht. Es war Tradition im Hause Kirner, dass am ersten Feiertag die Verwandten zu Besuch kamen. Und zu seiner Schwiegermutter, dieser launischen und immerzu nörgelnden alten Dame, hatte er ein ausgesprochen angespanntes Verhältnis.
Köster war es tatsächlich gelungen, Fingerprints auf dem Briefumschlag zu sichern. Er hatte sie noch am gestrigen Abend in das automatische Fingerabdrucksystem des Bundeskriminalamtes eingespeist. Sollten dort bereits Vergleichsabdrücke gespeichert sein, war es nur eine Frage von Stunden, bis ein Tatverdächtiger ermittelt war. Schließlich ging es bei diesem Fall um ein Kapitaldelikt und die Kollegen vom Streifendienst, die vor Essers Haus Wache hielten, wären sicherlich an einer schnellen Aufklärung und ihrer Ablösung interessiert. Doch leider hatte der Computer noch nichts ausgespuckt. Auch das BKA in Wiesbaden war wegen der Festtage unterbesetzt.
Dennoch kam Kirner nicht ganz vergebens. Die Registratur hatte den Strafregisterauszug von Friederike van Deeren geliefert, der Umweltschützerin, die ihre Studie in der gleichen Sorte Umschlag an Esser geschickt hatte, in der auch die Briefbombe gesteckt hatte. Kirner nahm die Akte zur Hand. Eine typische militante Umweltaktivistin. Farbanschläge auf Boote eines Yachtclubs, Beteiligung an einem Brandanschlag auf ein Baggerschiff, Einbruch, Landfriedensbruch, Nötigung, Beleidigung und – Kirner musste schmunzeln, als er den Tatvorwurf las – tätlicher Angriff auf einen Polizeibeamten in Tateinheit mit Körperverletzung. Trotzdem hatte der Richter im letzten Fall von einer Haftstrafe abgesehen. Alle Delikte standen im Zusammenhang mit ihrer Überzeugung. Nur bei dem Polizeibeamten in Hamburg hatte sie sich offenbar von ihrer Wut verführen lassen. Und jetzt einen Briefbombenanschlag auf den stellvertretenden Leiter der Nationalparkverwaltung Wattenmeer? Für Kirner passte das nicht zusammen. Dabei hatte er genügend Indizien in der Hand, sie als Hauptverdächtige anzusehen.
Sogar das Motiv hatte sie Esser ein paar Wochen zuvor mitgeteilt. Kirner legte die Akte beiseite und nahm die knapp zweihundertfünfzig Seiten starke Dokumentation zur Hand. Die Auswirkungen der Überbeanspruchung von Schutzzonen auf die Natur und Umwelt. Kirner las die ersten Zeilen. Die Überschriften legten dar, welche
Weitere Kostenlose Bücher