Die Wiege des Windes
Akten im Kreml.
Aber jetzt war doch noch Bewegung in die Sache gekommen. Und irgendwann mussten diese ewigen Fehlschläge ein Ende haben. Er konnte nicht sein ganzes Leben nur noch vom Pech verfolgt werden.
Er knipste das Licht aus und kuschelte sich in seine Bettdecke. Das Rauschen, das gedämpft durch das geschlossene Fenster ins Innere drang, war der Regen, der dem Wetterbericht nach eigentlich längst zu Schnee hätte werden müssen. Doch nicht einmal den Meteorologen konnte man in diesem Land trauen.
*
Rike hatte sich im Schutz der Dunkelheit über das Nachbargrundstück geschlichen und das Fahrrad über den Zaun gehoben. Den BMW hatte sie nicht mehr gesehen. Am ersten Feldweg war sie links in Richtung Neue Welt abgebogen. Die feuchte Kälte fraß sich langsam durch ihre schwarze Daunenjacke. In der Antarktis war es um ein Vielfaches kälter, aber das war eine für den Körper leichter erträgliche Kälte. Sie ärgerte sich, dass sie in der Eile vergessen hatte, ihre Thermowäsche anzuziehen. Wer dachte in so einer Situation schon an Unterwäsche.
Sie schaltete ihr Fahrradlicht nicht ein. Trotzdem erkannte sie im fahlen Mondschein den Weg. Sie warf des Öfteren einen Blick zurück. Diese Kerle hatten ihr einen gewaltigen Schrecken eingejagt. Der Mann vor ihrer Wohnungstür hatte einen Körperbau wie der Rausschmeißer einer Bar auf Sankt Pauli. Verdammt, in was für einen Schlammassel hatte Larsen sie gebracht?
Corde war der Einzige, der wissen konnte, was hier vorging. Er würde vielleicht auch wissen, wo Larsen steckte. Sollte der den Kerlen Geld schulden, dann würde sie es in Gottes Namen bezahlen, damit sie ihre Ruhe hatte.
Beim Leybuchtpolder bog sie in Richtung Greetsiel ab. Mittlerweile spürte sie ihre Finger nicht mehr und war gottfroh, als sie endlich kurz vor Hauen in den kleinen Feldweg einbog. Bald würde sie in eine warme Decke gewickelt auf Cordes Couch sitzen und eine heiße Tasse Tee trinken.
Plötzlich zerriss ein Schrei die Stille der Nacht. Rike fuhr zusammen. Ein Schuss dröhnte durch die Dunkelheit. Instinktiv zog sie den Kopf ein und lenkte das Rad in den Straßengraben. Sie fing den Sturz mit ihren Händen ab und kauerte sich auf den feuchten Boden.
»Verschwindet, ihr Hunde!«, dröhnte eine Stimme durch die Dunkelheit. »Ich habe noch genug Munition in meinem Lauf!«
»Verdammt, Corde«, murmelte Rike. Sie hob den Kopf und schrie: »Corde! Hör auf zu schießen! Ich bin es, Rike. Bist du verrückt geworden?«
»Bist du alleine?«
»Nein, ich habe hundert Mann bei mir«, schrie sie erbost zurück.
»Dann komm heraus!«
Rike richtete sich langsam auf und griff nach ihrem Fahrrad. Von weitem erkannte sie neben der Eingangstür die schattenhafte Gestalt eines Mannes, der ein Gewehr in der Hand hielt. Die andere Hand steckte in einem dicken weißen Handschuh. Er zielte auf sie.
»Mensch, Corde, nimm das Gewehr runter, bevor noch was passiert!«
Der Schatten entspannte sich.
*
Trevisan fröstelte, als er mit Johannes Hagemann den langen, weiß gekachelten Gang im Keller des Rechtsmedizinischen Instituts entlang schritt. Der Ort, wo den Toten die letzten Geheimnisse entrissen wurden, verlangte ihm viel ab. Schließlich lag auf dem kalten Aluminiumtisch ein Mensch. Und wenn er jetzt auch tot war, hatte er doch einmal gelebt, geliebt und gefühlt.
Hagemann klopfte an die Tür mit der Aufschrift Raum 1. Der Rechtsmediziner Doktor Mühlbauer öffnete. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Hallo, meine Herren. Sie sind ein paar Minuten zu früh. Aber kommen Sie nur herein.«
Trevisans Herzschlag beschleunigte sich. Er spürte das Pulsieren des Blutes in seinen Schläfen.
»Keine angenehme Sache«, sagte Mühlbauer. »Ausgerechnet heute und so kurz vor dem Essen. Bei uns gibt es in der Kantine Gans mit Knödeln und Rotkohl.«
Er lotste die beiden Kripobeamten durch eine weitere Tür in den Obduktionsraum. Der Tote lag mit einem weißen Leichentuch bedeckt auf dem Seziertisch in der Mitte des Raumes, einer einfachen Bahre mit Aluminiumoberfläche. Darüber verströmte eine Arbeitsleuchte aus starken Neonstrahlern ein helles und unnatürlich abweisendes Licht.
»Eine Wasserleiche ist immer eine ganz besondere Sache«, erörterte Mühlbauer mit einem deplatzierten Lächeln. »Vor allem, wenn sie ein paar Wochen alt ist. Also, wenn jemandem schlecht wird, dort ist die Toilette.« Er deutete auf eine Tür am Ende des Raumes.
Trevisan nickte. Er kannte sich hier aus.
Doktor
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