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Die wilden Jahre

Die wilden Jahre

Titel: Die wilden Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Will Berthold
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stand in der ersten Reihe, und er prägte sich jede Einzelheit ein, entschlossen, falls er die Hölle überlebte, sie und ihre Teufel niemals zu vergessen. Er wußte nunmehr, daß es etwas anderes war, im Gefecht zu fallen als von Landesschützen erschossen zu werden. Martin brauchte sich nicht mehr zu überlegen, ob es falsch gewesen war, sich nicht an seinen Vater um Hilfe zu wenden: er erfuhr, daß der alte Ritt sich geweigert hatte, ein Gnadengesuch für seinen Sohn einzureichen.
    Die Strafanstalt war im Warthegau, ostwärts von Berlin. Zwischen Leben und Sterben standen im besten Fall zwei Stunden und im schlechtesten zehn Minuten. In der Regel wurde zwei- bis dreimal in der Woche erschossen, morgens zwischen fünf und sieben, mitunter in alphabetischer Reihenfolge, manchmal auch willkürlich. Die Namen der Delinquenten kamen aus Berlin; Ritt hatte jeweils auf der Liste gefehlt, wodurch er von allen Insassen – Zufall oder Regie – sein Todesurteil am längsten überlebte. Er wartete auf den Tod und setzte auf die Flucht, während man im Morgengrauen andere holte. Es war kein Trost; er starb jedesmal mit, ohne von fiebernder Angst und törichter Hoffnung erlöst zu werden.
    Vor ein paar Tagen waren zwei Gefangene ausgebrochen. Ein dritter Häftling, Pfarrer im Zivilberuf, hatte von der Flucht gewußt; Mitwissen erschien dem neuen Kommandanten ein Grund, ihn mitzuhängen. Zur Abschreckung hatte er die ›verschärfte Vollstreckung‹ des Todesurteils befohlen.
    Alle Bewacher und alle Gefangenen mußten jetzt zusehen, wie die drei mit auf dem Rücken zusammengebundenen Händen auf die Küchenbaracke zugetrieben wurden, wo sich die Exekution vollzog.
    Die drei Häftlinge starben an einem Seil; es hing zwischen einem Baum und einem Balken in mäßiger Höhe, so daß einer von ihnen mit den Zehenspitzen jeweils kurz die Erde berührte, gerade lange genug, um einzuatmen, um schauerlich zu schreien, um den Tod zu verlängern. Dann wurde der Delinquent wieder hochgezogen, zugunsten der beiden anderen, die auch nicht schneller sterben sollten.
    Die Bewacher konnten die grausame Prozedur oft selbst nicht mit ansehen, aber sie stießen befehlsgemäß Häftlingen, die wegsehen wollten, den Gewehrkolben in den Rücken. Im Halbkreis um den Galgen gestellt, sahen die Gefangenen schweigend in die roten, aufgedunsenen Gesichter mit den verdrehten, verquollenen Augen. Sie hörten die Schreie ihrer Kameraden und wurden selbst vom Grauen gewürgt.
    Am leichtesten hatte es der mittlere Delinquent. Er war kleiner und wog weniger, und so starb er zuerst. Das Gewicht der beiden anderen zog ihn hoch. Sein Gesicht wurde dunkelblau und hörte auf zu zucken; der Mann hing als toter Ballast zwischen den beiden, deren Fußspitzen einmal links und einmal rechts am Boden aufkamen, Sekunden nur, während derer sich die Schlinge um den Hals lockerte und die Qual des Todeskampfes verlängerte.
    Die Schneidezähne grinsten weiß in den Gesichtern. Die Zunge schwoll in den offenen Mündern der Männer, die noch um ihr Leben kämpften und doch keine Chance mehr hatten. Dann war auch der Pfarrer tot. Die beiden Leichen hatten das Übergewicht und zogen den dritten erlösend nach oben. Während der endlosen Stunden, die die Gefangenen noch am Hinrichtungsplatz stehen mußten, bewegte nur noch der Wind die Toten.
    Martin überstand noch viele Nächte, noch häufig kamen am Morgen die Schritte über den Gang, auf seine Zelle zu – und gingen weiter. Er erfuhr von dem Geheimbefehl, beim Durchbruch der Russen die Gefangenen zu erschießen, und er fand, daß alles besser war, als in der Strafanstalt das Ende abzuwarten.
    Täglich rückte die Front näher. Die Amerikaner und Engländer, die längst Frankfurt genommen hatten, griffen aus der Luft in die Kämpfe im Osten ein. Der Kommandant ließ probehalber Alarm geben. Es entstand ein Durcheinander, weil die Bewacher annahmen, die Sowjets seien tatsächlich durchgebrochen. Entsetzt trieben sie Entsetzte aus den Zellen und kämpften gegen die Panik. Martin nutzte sie – während verzweifelter Zählappelle gelang ihm die Flucht.
    Er kannte sein Risiko. Die drei Toten am Seil, in deren verzerrte Gesichter er gesehen hatte, schärften seine Sinne. Ein Wald versteckte ihn, eine alte Frau gab ihm zu essen. Er wartete ab.
    Am 17. April 1945 begannen die Russen mit dem Sturm auf Berlin. Sie brachen bei Küstrin durch, wo sich Martin verborgen hielt. Aufgelöste, aufgeriebene, versprengte Divisionen deckten

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