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Die wilden Jahre

Die wilden Jahre

Titel: Die wilden Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Will Berthold
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plötzlich widerlich fand – so lange sah er die weiße Flocke der Erinnerung, einen daunenweichen Traum, den es einmal gegeben hatte, als er noch ein Kind war, ein Junge, der kurze Hosen trug und Ostereier suchte. Auf einmal sah er das Bild einer fragilen, grazilen Frau, seiner Mutter, die klein und zierlich war wie ein Kobold, die mon petit filou zu ihm gesagt hatte und von der er seit vielen Jahren nichts mehr hören konnte, weil sie in Frankreich lebte – wenn sie noch lebte.
    Plötzlich war er nüchtern, zog sich an und ging auf die Alte zu, die aus der Nähe die Ähnlichkeit mit seiner Mutter verlor. Sie sah nicht auf, als er seinen Arm um ihre Schultern legte, sie hochzog und sanft rüttelte. Er hob ihr Kinn; sie rührte sich noch immer nicht. Ihr Gesicht war schön, aber maskenhaft starr. Es gehörte einer Mumie von sechzig, deren Herz noch schlug.
    Martin ging in den Nebenraum.
    »Schluß!« brüllte er.
    Sie empfingen ihn mit wieherndem Gelächter. Sie lagen aufeinander, durcheinander, Uniformstücke in Erbrochenem. Alkohol lief ihnen über das Gesicht, Speichel aus dem Mund. Ihre Augen waren rotgerändert, ihre Lippen wurden giftig.
    »Junge, Junge«, keuchte ein Gefreiter.
    »Mensch«, sagte ein Unteroffizier, »den ganzen Krieg nischt zu fressen, und nun so viel Fleisch auf einmal.«
    »Halt's Maul und sauf!« rief ein Leutnant.
    »Hurenoffizier«, sagte der Gefreite.
    »Schluß!« brüllte Ritt wieder.
    Sie hörten nicht auf ihn, sie warteten auf die Russen und wollten noch immer etwas vom Leben haben, während Martin klar wurde, daß die törichten Weisheiten des Krieges für ihn einen Sinn hatten, wenn es ihm gelang, auch nur ein paar Menschen aus dem sterbenden Berlin herauszubringen.
    Drei Frauen und ein Kind schlossen sich ihm an, und Martin brachte sie in tagelangen Märschen, vorbei an Straßenpatrouillen und Aufhängestäben, Richtung Westen an die Elbe bis nach Tangermünde, wo er sich von ihnen trennte, um über den Fluß zu schwimmen.
    Er wurde vom rechten Ufer aus von den Russen beschossen, am linken von amerikanischen Vorposten belauert, dennoch hob er den Kopf aus dem Wasser und sah noch einmal zu der alten Frau hin, als müßte er sich endgültig davon überzeugen, daß sie nicht seine Mutter war.
    Glücklich und durchnäßt erreichte er das amerikanische Elbufer, kam an schläfrigen GI-Posten vorbei, betrat Land, das in den Tagen nach der Kapitulation noch als Kampfgebiet geführt wurde und von Zivilisten geräumt war. In einer Scheune stieß er auf einen deutschen Ex-Soldaten, der ihm Zivilkleider überließ. Zu zweit flüchteten sie weiter.
    Gegen Mittag hielt sie ein Jeep der Militärpolizei auf. Martin gab sich für einen Franzosen aus; seinem Begleiter hatte er eingeschärft, als Elsässer aufzutreten. Ein junger US-Offizier, der die beiden am nächsten Tag aufgriff, wurde sofort freundlich, als er hörte, daß sie Franzosen seien. Der Jeep fuhr schon wieder an, da ließ der Offizier den Fahrer noch einmal halten, als hätte er es sich anders überlegt.
    »In Salzwedel is a camp for french DPs. It's just on my way up. Get in, I'll give you a lift.«
    »It isn't necessary, but thanks anyway«, sagte Ritt, der sich seines Kumpels wegen nicht vom Leutnant nach Salzwedel bringen lassen wollte.
    Sie mußten aufsitzen und erster Klasse dem Verhängnis entgegenrollen. Der Amerikaner verwöhnte sie mit Schokolade und Zigaretten, der Fahrer fuhr schnell, die Landschaft flog vorbei. Martin betrachtete seinen Kumpel, der sich behaglich zurücklehnte.
    Sie erreichten das französische Barackenlager. Der Leutnant schüttelte ihnen die Hand, dann übergab er jedem noch ein Päckchen Kaugummi als Abschiedsgeschenk. Die Schranke ging hoch, und dreißig, vierzig Franzosen, im vom Alkohol geschürten Befreiungstaumel, empfingen die beiden Neuen.
    Bevor Martins Begleiter noch den ersten Satz gestottert hatte, merkten sie, daß er ein Deutscher war, und fielen über ihn her.
    Der amerikanische Leutnant war schon angefahren, wurde aber von dem Fahrer auf die Schlägerei aufmerksam gemacht.
    »Shit«, fluchte der US-Offizier und ging, gefolgt von seinen beiden Leuten, in das Lager zurück, entriß Martin und seinen Gefährten den Franzosen, und verprügelte anschließend die Deutschen.
    Dann fuhr er die beiden ohne Schokolade und ohne Kaugummi in das nächste amerikanische Camp für deutsche PoWs. Nach vierzehn Tagen höllischer Freiheit war Martin wieder hinter vertrautem Stacheldraht und begriff,

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