Die wilden Jahre
den Flüchtling. Mit stechenden Lungen, querfeld gejagt, von Ängsten gepeitscht, gehetzt, doch frei, versuchte Martin, sich weiter nach Süden durchzuschlagen.
Er kam bis Jüterbog, wo ihn russische Panzer vor die Wahl stellten, in sowjetische Gefangenschaft zu fallen oder in die untergehende Reichshauptstadt zu fliehen. Er mochte die Roten nicht, weil er die Braunen haßte; er hatte für alle Zeiten genug von den Diktaturen aller Schattierungen; außerdem sagte ihm sein Instinkt, daß er in dem von den Russen belagerten Berlin untertauchen könne.
Er schloß sich einer Kolonne an, die in wilder Auflösung nach Berlin zurückflutete, um dort versorgt und als Kampfverband wieder aufgestellt zu werden. Es war Martins Chance. Er meldete sich jeweils als Versprengter und verschwand rechtzeitig. Von einem kalten Willen zum Überleben getrieben, kam er bis Berlin-Falkensee, wo er sich in einer gepflegten Waldkolonie wiederfand und feststellte, daß er Hunger auf ein Stück Brot, Bedürfnis nach einem sauberen Hemd und Appetit auf eine Frau hatte.
Er sollte von allem so viel bekommen, wie er wollte. Es waren achtunddreißig Frauen, junge, alte, anständige, verdorbene und gleichgültige, sowie drei Soldaten, die ihn in einer möblierten Waschküche empfingen, wo sie sich, Männer, Frauen und Kinder, auf den Weltuntergang einrichteten.
Sie wußten, daß die Russen in Stunden oder Tagen kämen, und sie wußten, daß es sinnlos war, sie aufhalten zu wollen. Sie trugen ein paar Betten in den Keller, die Soldaten zogen die Zivilkleider der abwesenden Hausherren an. Warum sollten sie auch Hemmungen haben, wenn sie schon in ihren Betten lagen, mit ihren Frauen schliefen und mit ihren Kindern scherzten?
In der Nähe war das verlassene Lager einer Nachschuborganisation, die rechtzeitig aus Berlin geflüchtet war; es lieferte Schnaps und Schinken.
Vier ausgemergelte Männer verfügten über dreimal soviel Alkohol, als sie trinken, und zehnmal soviel Frauen, als sie nehmen konnten, und sie wußten, daß sich die Russen greifen würden, was sie zurückließen: die Frauen, den Schinken und den Kognak.
Zuerst wuschen sie noch die Gläser aus und duschten sich. Später tranken sie aus der Flasche, und der Weg ins Bad war ihnen zu beschwerlich, und zuletzt gab es ohnehin kein Wasser mehr.
Die Frauen machten sich nicht mehr zurecht, sie frisierten sich nicht, sie sahen aus wie Tiere, und genauso benahmen sie sich auch; ihre Gesichter schminkte die Angst.
Frauen, die ihren eingezogenen Männern über Jahre treu geblieben waren, boten sich an; die Angst trieb sie in die Betten, aber während der Intervalle lagen die Paare nicht still; sie wurden von krepierenden Granaten, fallenden Bomben und den Druckwellen der Explosionen aufgescheucht.
Was der Magen nicht halten konnte, gab er wieder her; die Männer knallten volle Flaschen gegen die Wand. Der Gefechtslärm rückte näher, aber sie hatten noch über hundert, und sie waren bloß zweiundvierzig. Achtunddreißig Frauen geteilt durch vier Männer, genaugenommen dreiunddreißig, denn zwei verzichteten des Alters wegen und drei aus anderen Gründen.
Martin spürte den Fusel im Magen und Umarmungen auf der Haut. Zärtlichkeiten wie Peitschenhiebe. Er trank, um nichts zu fühlen, und er zog die Frau an sich, um nicht zu denken. Sie war Mitte Dreißig, ihr Mann stand als SS-Obersturmführer irgendwo bei Erkner. Aus Angst zitierte sie Hölderlinverse, und wenn sie sich angesichts des Untergangs schon vergaß, wollte sie es nur mit einem einzigen Mann treiben, was Martin ihr versprach und auch hielt.
Das Haus zitterte, das Bett vibrierte, die Frau flüsterte, der Schnaps brannte, und Martin sah nur noch Flaschen, die um nackte Frauen, und nackte Frauen, die um Flaschen kreisten.
Er richtete sich auf, machte sich von der Frau frei, warf die Flasche an die Wand, und da begann der Reigen schon wieder: Körper, Flaschen – Flaschen, Körper, die keinem gehörten und jedem. Der Mensch, das Ebenbild Gottes, lag im Fusel, auf Scherben, im fremden Bett und stank nach Schweiß und Angst, umgeben von schreienden Kindern.
Dann sah Martin die Alte mit erloschenen Augen in der Ecke, eine, die nichts mehr sah, nichts mehr hörte, nichts mehr sagte. Eine stille Frau mit grauen Haaren, mit einem zarten sensiblen Gesicht, das nicht mehr in diese Zeit paßte.
Er stand auf.
»Was hast du denn?« fragte die Frau neben ihm etwas ärgerlich.
»Nichts.«
Vielleicht lag es nur am Alkohol, den Martin
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