Die wilden Jahre
Sonderrichter von gestern und Landgerichtspräsidenten von morgen, überlegte, wie viele Denunziationen, Lügen und Lappalien er einstmals wohl in Todesurteile umgesetzt haben mochte, fand, daß die Wand, an der Link mit geschlossenen Augen lehnte, ihre Schmutzfarbe trug wie Schamröte, sah zu Rothauch hin und wurde sich bewußt, daß die beiden, die nur falsche Anwürfe gegen ihn vorbrachten, doch seine wahren Ankläger seien, da er, versessen auf seinen Aufstieg, vergessen hatte, sich rechtzeitig mit ihnen auseinanderzusetzen. Mit einem Mitschüler, der in Polen nicht mit Blut gespart hatte, mit dem Lagerinsassen seines gehängten Vaters, der, von München nach Frankfurt umziehend, ungehindert aus einer düsteren Vergangenheit in eine glänzende Zukunft schlüpfen konnte. Und erneut tauchte vor ihm der Schatten Felix Lessings auf, des toten Freundes.
Kubitzka, der Kriminalkommissar von der Sicherungsgruppe, trat als erster Zeuge auf, umsichtig und gewandt, ein Mann, dem offensichtlich der Umgang mit dem Gericht vertraut war. Er zeichnete mit wenigen Strichen Wirths Porträt, einen zunächst lauteren Beamten, doch labilen Mann, der dann, über seine Spielleidenschaft stolpernd, zuerst vom Osten mit Geld gefüttert und schließlich von seinen Hintermännern erpresst worden war.
Kubitzka gab zu, daß Wirth nach seinem Zusammenbruch rückhaltlos gestanden habe; um reinen Tisch zu machen, habe er schließlich zugegeben, auch dem Journalisten Brenner geheime Dokumente gegen Geld ausgehändigt zu haben.
»Verzeihen Sie eine Frage«, begann Rothauch, »Wirths Geständnis kam freiwillig zustande?«
»Absolut«, erwiderte der Mann mit den flaumigen, sorgfältig gescheitelten Haaren, von dessen blassem Gesicht fleischige Ohren abstanden, mit Blut gefüllt.
»Danke«, entgegnete der Staatsanwalt und gab mit einer höflichen Geste den Zeugen für den Verteidiger frei.
»Nur eine Frage«, Dr. Schiele erhob sich. »Wie viele Stunden lagen zwischen dem Geständnis in Sachen Brenner und dem Selbstmord Wirths?«
»Eine halbe Nacht«, antwortete Kubitzka.
»Haben Sie diese beiden Dinge einmal in Zusammenhang gebracht?«
Er sei Kriminalist, versetzte der Zeuge, kein Psychologe.
»Auch nicht in Gedanken?« bohrte Schiele weiter.
»Es ist nicht meine Aufgabe, Mutmaßungen anzustellen«, erwiderte der Kriminalkommissar bestimmt, »sondern Tatbestände aneinanderzureihen.«
Martin schloß aus dem Verhalten der Richter, daß sein Anwalt auch hier intuitiv die schwächste Stelle der Aussage getroffen haben mußte. Er hatte Schiele nur einmal im Gerichtssaal erlebt, vor fünfzehn Jahren in Warschau, als er von ihm zum Tode verurteilt worden war, und damals wenig auf die juristischen Qualitäten des Kriegsrichters geachtet. Jetzt erkannte er, mit welcher Verve, mit welcher Kälte und Gefährlichkeit dieser Mann focht, in dem er seinen Mörder hatte sehen wollen, obwohl er auch sein Retter war.
Aus einer Laune heraus, erinnerte sich Martin, hatte er ihn in seine Firma geholt, und oft genug hatte es ihn verdrossen, daß Schiele immer unentbehrlicher geworden war; vergeblich darauf wartend, daß ihm der Jurist bei mancher Gelegenheit in den Rücken falle, hatte er sich im Laufe der Jahre damit abgefunden, in Schiele doch mehr seinen Retter als seinen Mörder zu sehen – einen Mann, den er mit dem Vorsatz verpflichtet hatte, ihn zu quälen. Dankbarkeit hasste Martin, und auch Schiele mochte sie nicht, und so gestand er sich verspätet auch hier Versäumnisse ein.
Jetzt witterte er einen Anschlag seines Bevollmächtigten, denn der Saal füllte sich mit hintergründiger, unterschwelliger Spannung; und Martin wurde die fatale Empfindung nicht los, daß die Explosion zwar gegen Rothauch gerichtet war, aber vielleicht auch ihn treffen würde.
»Meine Herren Richter«, leitete Schiele die Mitteilung ein, daß er zwei leitende Angestellte der Ritt-AG als Zeugen mitgebracht habe; es scheine ihm unumgänglich, sich mit der internen Gliederung des Hauses zu befassen.
Der Vorsitzende war einverstanden, Rothauch legte keinen Widerspruch ein, und so sagte ein Prokurist, ein subalterner linkischer Mann, aus, offensichtlich von Schiele im unklaren gelassen, um was es gehe, so daß der Prokurist durch Verlegenheit überzeugen konnte.
Der Anwalt fragte, wie viele Herren des Hauses ohne Gegenzeichnung durch Ritt Beträge bis zu 50.000 Mark anweisen konnten.
»Vier«, antwortete der Zeuge.
»Vier?« vergewisserte sich Schiele.
»Mit Ihnen,
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