Die wilden Jahre
Martin endlich vorgeführt wurde, von zwei Polizisten, die sich an der Außenseite des Eingangs postierten, sagte sich Schiele, daß ihm nur wenige Minuten Zeit blieben, um den Gefangenen aus seiner verkapselten Apathie zu reißen.
Er sah ihm entgegen, betrachtete ein abgezehrtes Gesicht, dessen Blick nach innen gekehrt war; er tastete das matte Lächeln des Gefangenen ab, der seit dem Tode der Mutter in einem gläsernen Turm der Trauer lebte.
»Ritt«, begrüßte ihn Schiele, »wir haben wenig Zeit, aber für die Entscheidung, die Sie zu treffen haben –«, er sprach barsche Worte im groben Ton, »reicht sie wohl aus: Wollen Sie kämpfen – oder kapitulieren?«
Martin schwieg; seine Lippen lagen schmal aufeinander, aber die starre Haltung, die er beim letzten Besuch seines Anwalts gezeigt hatte, schien Schiele nicht mehr so statuenhaft zu sein.
»Vermutlich ist es Ihnen gleichgültig, ob man Sie heute freilässt oder einsperrt. Mir nicht«, stellte Schiele fest. »Unsere Aktien werden unter zweihundert notiert, und von den meisten Versicherungsfirmen habe ich nur mit Mühe erreichen können, wenigstens das Ergebnis dieses Termins noch abzuwarten, bevor sie die Verbindung lösen. Wenn sie in dieser Sitzung nicht freikommen, sind Sie erledigt.«
»Geben Sie mir Trost oder Gift?« fragte Martin.
»Gift«, erwiderte Schiele, »Gegengift.«
»Warum?«
»Ich möchte, daß Sie endlich kämpfen.«
»Warum möchten Sie das?«
»Ritt, vergessen Sie nicht«, erwiderte der Jurist, einen Ton herausfordernd, den er jahrelang gehasst hatte, »daß Ihr verdammtes Unternehmen schließlich auch mein Lebenswerk ist.«
»Sie können doch aussteigen«, entgegnete Martin.
»Gewiß«, sagte Schiele, »und vermutlich muß ich es sogar, aber erst nach Schluß dieser Sitzung.«
Schiele sah, daß die gläserne Wand, die Martin um sich aufgebaut hatte, einen Sprung hatte; um sie vollends zu zertrümmern, mußte der Jurist, gewohnt, die Dinge mit dem Verstand, nicht mit den Gefühl zu wägen, Gefühlsregungen provozieren. »Sie wissen nicht, ob sich ein Kampf noch lohnt«, er sprach gleichgültig, geschäftsmäßig weiter, »aber vielleicht …« Schiele berichtete von dem Skandal, den Ritts Tochter im Salon Schlemmer, dem verhafteten Vater zuliebe, verschuldet habe, vor vollbesetztem Haus, vor einer Elite aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, wodurch Bettinas Ambitionen wohl für immer beendet sein dürften.
»Petra?« fragte Martin; seine Augen wirkten endlich klar.
»Sie hat ihrem Stiefvater Sekt in das Gesicht geschüttet und ist aus seinem Haus weggelaufen«, ergänzte Schiele.
»Wo ist Petra jetzt?«
»Bei Eva«, antwortete Schiele mit starrem Gesicht.
»Bei Eva?« fragte Martin in der vertrauten Gewohnheit, sich schroff zu zeigen, wenn er berührt war. »Schiele«, fragte er mit rauer Stimme, »was sollen denn diese Mitteilungen?«
»Sie in Versuchung führen, Ritt«, antwortete der Jurist; er verfolgte, wie Martins Zorn unvermittelt dem Charme wich, mit dem er Niederlagen eingestehen konnte.
»Das ist Ihnen gelungen, Schiele«, bestätigte er, »gibt es denn überhaupt noch eine Chance gegen diesen Rothauch?«
»Eine vielleicht«, erwiderte er, »aber der Preis liegt so hoch, daß Sie ihn nicht bezahlen können.« Er starrte Martin mit grünen, quellenden Augen an.
Mit dem Staatsanwalt war die Unruhe in den Saal gebrodelt, von draußen her, vom Gang, wo sich an diesem Tag die Fotografen und Reporter, von der Verhandlung ausgeschlossen, aufhalten mußten, wo sich die Vorhersagen, ob sie aus berufenem Munde kamen oder nur aus schwatzhaftem, einig waren, daß Ritt heute auf verlorenem Posten stünde.
Die drei Richter betraten den Saal; die Anwesenden erhoben sich. Bevor die Verhandlung begann, präsentierte Dr. Schiele einen zweiten Rechtsanwalt. Da er nicht nur vor Gericht der Verteidiger des Beschuldigten, sondern im Geschäftsleben der Bevollmächtigte seines Unternehmens sei, könne es notwendig werden, ihn als Zeugen zu hören, was ihn dann zwänge, die Verteidigung niederzulegen; deshalb habe er einen Kollegen gebeten – falls nötig –, als Verteidiger einzuspringen.
»Danke«, quittierte der Vorsitzende diese Mitteilung mit der fast vehementen Sanftheit, für die er bekannt war; Martin erfasste, daß hinter dem urbanen Verhandlungsstil dieses Landgerichtsdirektors natürliche Objektivität stand, besonders gegenüber dem Staatsanwalt.
Obwohl die Öffentlichkeit ausgeschlossen war, hielt sich im
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