Die Witwen von Paradise Bay - Roman
Speisekarte mit dem Kindermenü in die Hand drückte, hat er eine so beleidigte Flappe gezogen, dass es keine Chance mehr auf eine zivilisierte Unterhaltung gab. Ich hatte während des Flugs mehrmals versucht, mit ihm über den Grund unserer plötzlichen Reise zu reden. Ich sperre mich selbst gegen das Gespräch. Ich will auf gar keinen Fall das Wort Scheidung in den Mund nehmen, andererseits finde ich keine vornehme Umschreibung. Beiläufig lässt sich so etwas nicht sagen. Dein Vater und ich machen im Moment eine etwas schwere Zeit durch, aber das wird schon wieder. Ich habe den Satz während des Flugs oft im Geiste wiederholt, in der Hoffnung, dass er dadurch irgendwann wahr wird.
Quentin reagiert mit einem lässigen Schulterzucken und nuschelt: »Is’ mir egal.«
Nun reißt er ein Tütchen Ketchup auf und quetscht den Inhalt auf den Tellerrand. Er streut erst Salz, dann Zucker auf den Ketchupberg und fährt schließlich mit dem Strohhalm durch die ganze Schweinerei. Wenn sich Quentin unwohl fühlt, spielt er mit dem Essen, eine Unart, die er von seinem Vater übernommen hat und die mich im Moment nur deshalb ärgert, weil sie mich an ihn erinnert.
»Spiel nicht mit deinem Essen rum«, herrsche ich Quentin an und bedaure meinen barschen Tonfall augenblicklich. Ich muss tief Luft holen, um nicht zu weinen.
»Tut mir leid, Schatz«, flüstere ich und versuche, die Tränen zu bannen. »Du kannst mit mir über alles reden, das weißt du, oder? Es ist nicht deine Schuld. Dein Vater und ich, wir lieben dich beide und … keiner von uns …«
»Mum, hör damit auf«, fällt mir Quentin ins Wort. »Tu mir den Gefallen und erspar mir das Thema.« Er verdreht die Augen und stößt einen übertriebenen Seufzer aus.
Wie er so dasitzt, in seinem T-Shirt mit dem aufgedruckten Cannabisblatt und den Baggy Pants, die an beiden Knien Löcher haben, verkörpert er den rebellischen Teenager schlechthin. Er trägt eine Wollmütze, sein langes Haar steht über den Ohren ab. Quentin ist eigentlich blond, wie ich, aber er hat sein Haar gefärbt, zu einem scheußlichen Hellgelb, das mich an Wolle auf Puppenköpfen erinnert. Komplettiert wird das Ensemble durch eine silberne Kette, die von einer Gürtelschlaufe bis zu den Waden hinunterhängt. Ich kann mir vorstellen, was meine Mutter zu diesem Aufzug sagen wird.
»Warum musstest du dich ausgerechnet heute so anziehen?« Dabei zieht er sich jeden Tag so an. »Wie soll ich das deiner Großmutter erklären?« Es ist eine rhetorische Frage, natürlich erwarte ich keine Antwort, zumindest keine ernsthafte.
»Sag ihr, ich bin abhängig und hab meine Jacken und Hosen für ’nen Schuss verkauft.« Quentin pustet durch einen Strohhalm in sein Colaglas und macht Bläschen.
»Das kannst du ihr selbst sagen«, erwidere ich. Ich bin müde und fühle mich von Minute zu Minute älter. Ich hole erneut tief Luft und versuche, mich zu sammeln. »Dann iss wenigstens was zum Nachtisch.« Wehmütig denke ich an die Zeit zurück, als ich Quentins Kummer noch mit Eis mildern konnte.
»Nein, danke, bin satt«, sagt Quentin, fährt mit dem Strohhalm durch den Ketchupberg und zeichnet rote Linien auf das Platzdeckchen mit den Bildern von Bären, Elchen, Karibus und anderen Tieren aus Neufundland.
Ich bin nicht sicher, was ich wirklich von meinem Sohn erwarten kann, aber ich weiß genau, was ich gerne hören würde – das Versprechen, dass er mir unter allen Umständen den Vorzug vor Howie geben wird. Natürlich ist das selbstsüchtig, eigentlich geradezu jämmerlich, aber im Moment würde nichts anderes mir ein wenig Seelenfrieden gewähren. Ich möchte Quentin sagen, dass sein Vater an allem schuld ist, dass er uns betrogen, belogen und verraten hat. Ich möchte das sogar so gerne sagen, dass ich in meinen Burger beißen muss, um die Worte zurückzudrängen. Ich bin erschöpft von dem Flug, der Fahrt, der ganzen Geschichte, am liebsten würde ich mich hinlegen und schlafen, bis der Alptraum vorüber ist.
Wenn ich daran denke, dass ich geheult und Howie angefleht habe, mich nicht zu verlassen, zittere ich vor Scham. Ich habe sogar gesagt, ich würde ihm vergeben, wenn er das mit der blödsinnigen Scheidung vergisst. Ich muss ein Bild des Jammers abgegeben haben. Ich flehe meinen betrügerischen Ehemann unter Tränen an, bei mir zu bleiben! Eine völlig verkehrte Welt. Der Mann, der auf fremdem Terrain gewildert hat, sollte um Gnade winseln und die Vergebung seiner Frau erflehen und nicht auch noch
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