Die Witwen von Paradise Bay - Roman
meine Mutter, fanden die Plötzlichkeit seines Todes tröstlich, nur ich hatte mir gewünscht, er wäre vorher krank geworden. Natürlich wollte ich nicht, dass er litt, aber ich hätte gerne ein Warnsignal erhalten, um noch einmal nach Hause zu fahren und mich zu verabschieden.
Als ich in die steile Zufahrt zu meinem Elternhaus einbiege, ist Abendessenszeit. Meine Mutter lebt in einem typischen Neufundlandhaus, es besteht ganz aus Holz und hat an der Rückseite ein tiefgezogenes Dach. Es ist über hundert Jahre alt, aber zum ersten Mal sieht man ihm sein Alter an. Die Farbe blättert ab, Dachziegel fehlen und die Lampe auf der Veranda rostet. Wehmütig blicke ich auf das Paar Schaukelstühle auf der hinteren Veranda. Dort hat mein Vater morgens im Sommer gesessen, seinen Tee getrunken und gen Horizont geblinzelt, als wäre er auf einer einsamen Insel gestrandet und hielte Ausschau nach dem rettenden Schiff.
»Geh’n wir rein oder hocken wir den ganzen Abend im Auto?«, fragt Quentin, und unter den gegebenen Umständen ist sein gereizter Tonfall verständlich.
»Na, dann los«, sage ich und atme tief ein. »Die Koffer können wir nachher holen. Deine Großmutter erwartet dich bestimmt schon ungeduldig.«
Beim Anblick meiner Mutter, die auf die hintere Veranda kommt und vorsichtig die steile Zufahrt betritt, muss ich beinahe weinen. Sie versucht, auf uns zuzulaufen, aber ihre Knie sind zu geschwollen, und die Beine machen auch nicht mit. Ich sollte ihr entgegengehen und ihr diese Mühsal ersparen, doch ich bleibe wie angewurzelt stehen.
Mom stürzt sich gleich auf Quentin und umarmt ihn stürmisch. Sie drückt ihm Küsschen auf die Wangen, wie zu Säuglingstagen. »Geht’s meinem Fischlein gut?«, fragt sie und schließt ihn gleich wieder in die Arme. »Mein kleines Möppelchen.« Und weiter geht die Küsserei, auf Kopf, Wangen, Stirn und Mund. Quentin erinnert mich an ein im Scheinwerferlicht erstarrtes Reh, und ich kann mir das Grinsen kaum verkneifen. Er ist mittlerweile etliche Zentimeter größer als meine Mutter, entweder ist er gewachsen oder sie geschrumpft. Quentin wirft mir einen flehentlichen Blick zu. Meine Mutter überschreitet eindeutig seine Grenzen. So viel Zuwendung entspricht nicht der motzigen Art eines Teenagers.
Mom wirkt ungewohnt klein und schwach. Sie ist zierlicher und gebrechlicher geworden, an ihren Armen und Beinen zeichnen sich sogar schon die Knochen ab. Offen gestanden weiß ich gar nicht genau, wie alt sie ist. Sie muss auf die siebzig zugehen, denn mein Vater war zweiundsiebzig, als er starb.
Die Falten um Augen und Mund sind viel ausgeprägter, und ihr einst goldblondes Haar ist nun erbarmungslos weiß. Aber der auffälligste Unterschied zeichnet sich an ihrem Mund ab: Die einst so vollen Lippen, die ständig gelächelt und meine Wangen geküsst haben, sind eingefallen, und der Strichmund verleiht meiner Mutter einen permanent übellaunigen Ausdruck. Sie trägt ein schlichtes Hauskleid aus verblichener blauer Baumwolle und Kniestrümpfe, ihr Markenzeichen, die mittlerweile zu den Knöcheln hinunterrutschen.
»Mom«, sage ich laut, um die Attacke auf ihren Enkel zu beenden. »Es tut so gut, dich zu sehen.« Und das ist keine Floskel. In dem Moment wird mir schlagartig bewusst, wie sehr sie mir gefehlt hat.
Ich blicke zur Hintertür. Sie steht weit offen, und ein wenig erwarte ich, dass mein Vater die Treppen heruntereilt, um unsere Koffer zu holen. Es ist hart, meine Mutter ohne meinen Vater zu sehen. Dabei haben meine Eltern nur wenig gemeinsam unternommen. Dad verbrachte die Wochenenden mit Angeln, Jagen und Kartenspielen, während Mom Blaubeeren einkochte, mittwochabends zum Bingo ging und ansonsten Pullover und Decken strickte, die sie Quentin auch heute noch schickt, obwohl er zu alt dafür ist. »Handgestrickte Pullover sind so was von schwul«, sagt Quentin bei jedem Paket. »Kannst du Oma nicht bitten, mir Geld zu schenken?«
»Na, kommt rein«, sagt Mom. »Wir können ja nicht den ganzen Abend hier rumstehen und den Nachbarn Gesprächsstoff bieten.«
Dabei ist das nächste Haus fast anderthalb Kilometer entfernt.
»Wir müssen nämlich«, fährt sie fort, »weiß Gott Schadensbegrenzung betreiben, schließlich bist du mit Quentin alleine hier, ohne dieses Stück Scheiße, das du geheiratet hast.«
»Mom, bitte«, beschwöre ich sie. »Nicht vor Quentin.«
Sie zuckt mit den Achseln. »Ich hab doch keinen Namen genannt.«
»Quentin weiß, mit wem ich verheiratet
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