Die Wohltäter: Roman (German Edition)
einstündigen Vortrag über die Länder, in denen die Organisation tätig war, gefolgt von einer Stunde mentalem Training. Jeden Tag bekamen sie einen neuen Vorsatz vermittelt, den sie im Verlauf des Tages wie ein Mantra anwenden sollten. Das konnten solch banale Sätze sein wie »Ich bin stark« oder »Ich schaffe es, wenn ich nur will«. Tuvas Lieblingssatz lautete »Alles, was ich brauche, finde ich in mir«. Wenn sie hungrig oder erschöpft war, half es tatsächlich, diesen Satz vor sich herzusagen.
Der Nachmittag war für die Renovierungsarbeiten vorgesehen. Der Hof sollte instand gesetzt werden, und die Leiter hatten entschieden, dass die physische Arbeit eine ideale Vorbereitung für die schwierigen logistischen Übungen wäre, die später vor Ort in den betroffenen Gebieten durchgeführt wurden. Tuva und Chloé aus Frankreich waren für den verwilderten Garten zuständig, den sie langsam mit der Hand beackerten, denn sie hatten keinerlei Werkzeug zur Verfügung, und das war auch gut so, denn auf diese Weise erfuhren sie, wie man ohne Hilfsmittel kreativ arbeiten konnte.
Jeden Morgen nahm Tuva einige Tabletten ein, um die roten Hautirritationen zu lindern, die an ihren Händen und Füßen entstanden, wenn sie mehrere Stunden lang totes Gras und Gebüsch ausgerissen hatte. Marius und ein Belgier hatten es sich gemeinsam zur Aufgabe gemacht, das Dach zu erneuern. Keiner von beiden hatte auch nur die geringste Erfahrung als Dachdecker, aber sie hatten sich eine Anleitung beschafft und kletterten nun dort oben herum wie richtige Profis, fand Tuva. Sowohl Garten als auch Dach schienen Arbeit bis in alle Ewigkeit zu bieten, aber alle Schüler bissen die Zähne zusammen und wunderten sich, wie viel sie tatsächlich erreichen konnten, wenn sie gemeinsam arbeiteten.
Abends ging es mit der obligatorischen Gruppenarbeit weiter, die entweder aus Chorgesang, psychologischen Tests oder anderen Aktivitäten bestand, die dazu dienen sollten, die Gruppe zusammenzuschweißen und ihr die selbstlose Arbeit in der Gemeinschaft nahezubringen. Tuva mochte die anderen Freiwilligen und hatte sich schon bald nicht nur mit Marius, sondern auch mit ihrer Partnerin bei der Gartenarbeit angefreundet.
Am schönsten war es, wenn Leif ihnen an den Abenden erzählte, dass sie seine Auserwählten seien und wie stark die Gruppe sei – aus verschiedenen Ländern wurden die Allerbesten rekrutiert, und ihre Arbeit würde bald anderswo den Unterschied ausmachen. Seine Worte hatten einen magischen Klang für Tuva. Er wusste, wohin sie sich begaben, und er verstand sie. Sie mochte ihre Mitschüler, aber mitunter wünschte sie sich insgeheim, Leif spräche zu ihr allein.
Nach einigen Wochen gab Leif bekannt, dass der Tagesroutine nun eine neue Komponente hinzugefügt werden sollte. Bei der morgendlichen Zusammenkunft teilte er ihnen mit, dass sie aufhören sollten, sich als Gruppe zu verstehen und nun stattdessen individuelle Punkte sammeln mussten. Sie sollten sich selbst und der Schule beweisen, dass sie es wert waren, Freiwillige zu werden. In der nächsten Entwicklungsstufe gab es nämlich nicht für alle Platz, auch wenn sie jetzt zusammen den Kurs besuchten.
Rolf, Else und Leif würden sie beaufsichtigen und jedes Mal Punkte notieren, wenn ein zukünftiger Freiwilliger eine bessere Leistung zeigte als die anderen oder sich auf andere Weise hervorhob.
Außerdem sollten sie nun beginnen, sich gegenseitig anzuzeigen. Von jemandem angezeigt zu werden, gab einen Minuspunkt, beispielsweise, wenn es hieß, dass man die Toiletten nicht ausreichend scheuerte oder nicht gut genug kooperierte. Die Meldungen blieben anonym, versprach Leif, man würde also niemals erfahren, wer wen angezeigt hatte. Dies geschah zum Besten der Gruppe. Und zum Besten der Bedürftigen. Die Übung zielte darauf ab, Einflussnahme von anderen aushalten zu lernen, erklärte er.
Zwischen den elf Rekruten entstand sofort Unruhe, aber niemand protestierte. An diesem Abend herrschte vollkommene Stille im Schlafsaal.
Bereits nach zwei Tagen waren alle völlig von der Punktejagd besessen. Tuva gab alles. Sie wollte für das Wohl anderer arbeiten, und sie würde beweisen, dass sie es wert war, nach Afrika zu fahren. Sie eilte von einer Aufgabe zur nächsten; sie zwang sich selbst dazu, effektiver zu sein als je zuvor, und um ihre eigenen Punkte im Vergleich zu den anderen zu maximieren, beobachtete sie auch, wer nicht mitkam. Und meldete es. Die Schüler sprachen immer weniger
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