Die Wolke
Polizisten, Ordnung zu schaffen. Aber nur wenige Fahrer folgten ihren Anweisungen. Die Beamten, die schimpfend und gestikulierend zwischen den Wagen herumhasteten, wirkten lächerlich. Janna-Berta wunderte sich: Bisher hatte sie die Polizisten nie so gesehen. Sie hatte immer großen Respekt vor ihnen gehabt.
Auf der Autobahnauffahrt bewegte sich so gut wie nichts. Dicht an dicht fuhren oben die Wagen und gaben nur selten einem, der von unten kam, den Weg frei. Unten an der Abzweigung wurde das Chaos immer schlimmer. Eine Frau am Steuer eines kleinen Fiat, der seitlich abgedrängt worden war, schrie verzweifelt. Drei Kinder auf dem Rücksitz schrien mit. Zwei andere Wagen standen ineinander verkeilt. Aber niemand kümmerte sich darum. Offensichtlich waren sie von ihren Besitzern im Stich gelassen worden. Wer auf die Autobahn wollte, mußte die Wracks umfahren.
Uli blieb stehen und gaffte. Als Janna-Berta ihn antreiben wollte, wurde er wütend.
»Siehst du vielleicht 'ne Wolke?« rief er. »Laß mich in Ruh!«
»Das Gift ist unsichtbar«, sagte Janna-Berta. »Also kann man sie nicht sehen.«
Uli warf einen mißtrauischen Blick in den Himmel, dann stieg er auf, und sie fuhren weiter.
Ein paar Wagen, die schon in die Autobahnauffahrt eingebogen waren, wendeten nun auf der Hangwiese und fuhren in Richtung Bad Hersfeld. Die Straße nach Niederaula war breit und eben, eine richtige Rennstrecke. Aber auch hier fuhr man kaum noch schneller als fünfzig. Zweispurig kroch die Kolonne nordwärts. Dann bildete sich eine dritte Spur. Ein einsamer Ford, der aus Niederaula südwärts strebte, mußte halb aufs Bankett.
Janna-Berta behielt Uli im Auge. Er fuhr immer langsamer und machte gefährliche Schlenker. Er tat ihr leid. Wie er schwitzte! Jetzt wehte nur noch eine sanfte Brise, die Luft war schwül. Unter den Achseln und am Rücken war Ulis Hemd durchnäßt. Die Jacke hatte er längst auf den Gepäckträger geklemmt.
Kurz vor Niederaula sah Janna-Berta, wie die Leute die Köpfe aus den Seitenfenstern streckten. Sie riefen sich eine neue Schreckensmeldung zu: Im Süden kam ein Gewitter auf, das hinter ihnen herzog. Und eben war gemeldet worden, daß die ganze vermutliche Fallout-Fläche zwischen Grafenrheinfeld und Bad Hersfeld in einem Gürtel von fünfzig Kilometern Breite evakuiert werde. Eine reine Vorsichtsmaßnahme, hieß es, um jedes Risiko auszuschließen.
»Da hast du's!« rief Uli und zeigte nach Süden: »Man sieht sie doch!«
Aus den Rufen und den Radiomeldungen, die sie im Vorüberfahren aufschnappen konnte, machte sich Janna-Berta ein Bild der Lage.
»Reine Vorsichtsmaßnahme?« hörte sie einen jungen Mann sagen. »Daß ich nicht lache! Wahrscheinlich hat uns das Zeug längst eingeholt.«
»Ich glaub gar nichts mehr«, rief eine Frau auf dem Anhänger eines Traktors. Ein paar Kinder kauerten auf Gepäckbergen um sie herum. Als der Anhänger an Janna-Berta und Uli vorüberkam, rief ihnen die Frau zu: »Seid ihr allein? Kommt rauf, für zwei ist noch Platz!«
Janna-Berta dankte und schüttelte den Kopf. Auf den Rädern waren sie jetzt besser dran. Und sie wußte ja auch nicht, wo die Traktorleute hinwollten. Sie und Uli hatten ein festes Ziel: den Bahnhof von Bad Hersfeld.
In Niederaula ging es zu wie in einem aufgescheuchten Ameisenhaufen. Überall in den Seitenstraßen wurde Gepäck in die Wagen geschleppt, Männer schraubten Dachgepäckträger fest, Kinder wieselten aufgeregt herum. Vor einem Haus sah Janna-Berta einen VW-Bus stehen, dessen Dach vollgepackt war mit Koffern und Federbetten. Zwei Männer und mehrere Kinder schnürten das Gepäck fest, eine Frau schleppte ein halbes Schwein in den Bus. Janna-Berta mußte an Gastarbeiter denken. Aber die da um den Bus beschäftigt waren, sprachen Deutsch. Immer wieder starrten sie in den Himmel.
Dann schrie Uli plötzlich auf: In einem Vorgarten erschoß ein Mann einen Collie
Vor der Tankstelle am Ortsausgang hatte sich eine Wagenschlange auf dem Bürgersteig gebildet. Janna-Berta und Uli mußten absteigen, um durchzukommen. Vor der Zapfsäule prügelten sich zwei Männer. Uli traute sich nicht an ihnen vorbei. Janna-Berta packte seine Lenkstange und zog ihn mit.
Vierzehn Uhr acht. Noch zwei Dörfer und ein Gutshof lagen zwischen Niederaula und Bad Hersfeld. Janna-Berta trieb Uli weiter. Aber ihr kamen Zweifel, ob er die ganze Strecke schaffen würde. Vielleicht würde ihr nichts anderes übrigbleiben, als sein Fahrrad zurückzulassen und ihn bei
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