Die Wolke
war den Tränen nahe. Sie stiegen ab und ließen die Räder fallen. Janna-Berta bereute jetzt, nicht mit Jordans gefahren zu sein. Uli klammerte sich an sie, und sie umarmte ihn. Was nun? Zurück ins Dorf, um einen anderen Weg nach Norden zu suchen?
Es war schon fast drei Uhr.
Da hörten sie Motorengeräusch hinter dem Bahndamm.
Sie hoben die Räder auf und zerrten sie die Böschung hinauf. Janna-Berta stolperte und rutschte wieder ein Stück hinunter. Uli war zuerst oben.
»Janna-Berta!« rief er aufgeregt. »Da unten ist ein toller Weg – fast so gut wie eine Straße!«
Sie schob das Rad über den Rand der Böschung, sah, wie sich Uli jenseits der Eisenbahnschwellen auf den Sattel schwang, hörte, wie unten ein Auto vorbeifuhr. Während sie ihr Rad über die Schwellen hob, fiel ihr das riesige, blühende Rapsfeld hinter dem Damm auf, das vorher ihrem Blick verborgen gewesen war. Wie es leuchtete!
Dann sah sie noch, wie Uli triumphierend die Arme hob, bevor er, die jenseitige Böschung hinunter, seinem Rad freien Lauf ließ.
»Vorsicht!« rief sie. »Du kannst nicht durch den losen Schotter –«
Da flog er auch schon kopfüber vom Rad, hinunter auf den breiten Weg, auf dem in hoher Geschwindigkeit ein Auto herangeschossen kam. Das Fahrrad überschlug sich. Der Teddybär wurde vom Gepäckträger geschleudert und blieb am Fuß der Böschung liegen.
»Uli!« schrie Janna-Berta.
Der Fahrer des Autos bremste nicht. Es gab einen dumpfen Schlag, und der Wagen raste weiter, einen Staubschweif hinter sich lassend.
4
Starr vor Entsetzen stand Janna-Berta auf dem Bahndamm. Die Staubwolke hatte sich verzogen, und dort unten lag Uli. Nicht weit von ihm lag sein Teddy, daneben das Fahrrad. Nur die Lenkstange war verbogen. Das Vorderrad drehte sich noch. Ulis Kopf, von der Kapuze umhüllt, lag seltsam flach in einer Blutlache, die sich zusehends vergrößerte. Janna-Berta warf das Rad hin, stürzte die Böschung hinunter und kauerte sich neben Uli. Sie streichelte seine Hand, die noch ganz warm war. Sie drehte sich nicht nach der Autokolonne um, die vom Dorf herankam. Hier lag Uli. Hier konnte niemand vorbei. Sie blieb mitten auf dem Weg hocken.
Der vorderste Wagen bremste. Ein bärtiger Mann und eine rotblonde Frau stiegen aus. Hinter ihnen wurde wütend gehupt. Immer mehr Hupen lärmten. Die Rotblonde zog Janna-Berta hoch.
»Ihr wolltet wohl auch auf den Bad Hersfelder Bahnhof«, sagte sie.
»Steig ein«, sagte der Bärtige. »Wir nehmen dich mit. Die Kinder rücken ein bißchen zusammen.«
»Uli muß mit«, sagte Janna-Berta.
»Uli?« fragte die Frau. »Du meinst...«
Janna-Berta warf den Kopf zurück und sah die Frau mit einem wilden Blick an. »Er ist mein Bruder!« schrie sie.
»Du kannst ihm nicht mehr helfen«, sagte der Bärtige leise.
Das Hupkonzert wurde immer lauter. Eine Stimme schrie: »Macht den Weg frei – oder wir helfen nach!«
»Er muß mit«, sagte Janna-Berta. »Er muß mit.«
»Die verlieren die Nerven!« rief der Bärtige.
Er warf Ulis Fahrrad auf die Böschung, hob Uli auf, ging ein paar Schritte ins Rapsfeld hinein und legte ihn dort nieder. Als er zurückkam, war sein Hemd voller Blut.
»Nein«, schrie Janna-Berta. »Nein!«
Sie wollte ins Rapsfeld laufen, aber die Frau hielt sie fest. Janna-Berta versuchte sich loszureißen und schlug um sich, bis ihr der Bärtige eine schallende Ohrfeige gab. Da knickte sie zusammen und ließ sich widerstandslos in den Wagen tragen.
Erschreckt rückten die drei kleinen Mädchen im Fond zusammen.
»Schnell!« rief die Rotblonde. »Die fallen noch über uns her!«
Der Mann und die Frau warfen sich auf ihre Sitze, schlugen die Türen zu und fuhren davon, gefolgt von der Kolonne. Der Aufenthalt hatte kaum mehr als drei Minuten gedauert. Die beiden schwiegen. Auch die Kinder blieben stumm. Janna-Berta nahm nichts wahr. Erst als der Wagen neben der Fulda auf einer Wiese hielt und die Frau die kleinen Mädchen herauszerrte, hob sie den Blick. In der Nähe standen Häuser. Das mußte Bad Hersfeld sein. Es donnerte.
»Du mußt mitkommen«, sagte die Rotblonde zu ihr. »Hier bist du verloren.«
Sie reichte ihr die Hand, und Janna-Berta tat, was von ihr erwartet wurde. Aber sie hörte alles, was die anderen sprachen, wie durch eine dicke Wand.
Der Bärtige hievte einen vollgepackten Rucksack aus dem Kofferraum und wuchtete ihn sich auf den Rücken. Das mittlere Mädchen, vielleicht fünf Jahre alt, setzte er sich rittlings auf die Schultern. Die
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