Die Wuensche meiner Schwestern
wüsste er nicht genau, wo er hinsehen sollte, und könnte vor allem nicht Aubrey ansehen.
»Wo willst du hin?«, fragte sie.
»Jetzt?«
»Nein, ich meine nach – du weißt schon. Nach Tappan Square.«
»Ach so, ja. Meine Schwester ist wieder bei meiner Mom eingezogen. Und ich habe eine Wohnung auf der anderen Seite des Flusses gemietet, in Nyack.«
Aubrey wusste, dass sie sich freuen sollte. Vic hätte ihr sagen können, dass er auf die andere Seite des Kontinentszog, stattdessen zog er nur auf die andere Seite der Tappan Zee. Und doch trieb ihr die Vorstellung, sie würden vom Hudson, von der breiten, starken Strömung des Flusses, voneinander getrennt, beinahe die Tränen in die Augen. Sie musste sich sammeln, bevor sie weitersprach.
»Es tut mir leid, dass du umziehen musst«, sagte sie. Sie vergrub die Hände tiefer in den Hosentaschen.
»Danke«, erwiderte er. »Mir tut das mit der Strickerei auch leid.«
»Wir kriegen das schon hin.«
»Aubrey …« Er sah sie zum ersten Mal direkt an. Lila Schatten hatten sich unter seinen Augen festgesetzt; sein Mund war vor Schmerz zusammengepresst. »Ich weiß, was du getan hast. Ich weiß über den Zauber der Devil’s Night Bescheid und dass ich die Sache war, die du geopfert hast.«
»Woher?«
»Bitty war heute Morgen bei mir und hat es mir erzählt.«
»Natürlich«, sagte sie. Sie stemmte die Füße in den Boden der Strickerei und erlaubte sich nicht, näher an ihn heranzutreten. »Ich wusste nicht, wie ich es dir sagen sollte. Wenn mir irgendetwas anderes eingefallen wäre – eine andere Möglichkeit – du weißt, dass ich sie ergriffen hätte.«
Er kniff die Augen zusammen. »Hättest du das?«
Sie stellte sich noch ein wenig aufrechter hin. Seine Zweifel verletzten sie mehr, als es seine Abwesenheit getan hatte. Er war die Liebe ihres Lebens, ihre erste, letzte und einzige Liebe. Aber das konnte sie ihm nicht erklären. Nicht jetzt.
»Wir leben im einundzwanzigsten Jahrhundert«, fuhr Vic fort. »Ich finde, man sollte doch zumindest gefragt werden, bevor man zum Menschenopfer gemacht wird. Ich meine, wir sind doch keine Wilden.«
Sie fragte sich, ob er sie zum Lachen bringen wollte, doch in ihr war kein Lachen mehr. Jeder Tag, der seit ihrer letzten Begegnung vergangen war, seit sie zum letzten Mal dieses besondere Band zwischen ihnen gespürt hatte, war wie ein leises, langes Abschiedsläuten gewesen. Sie würde nicht behaupten, sie habe nun nichts mehr, wofür es sich zu leben lohnte – immerhin war da noch ihre Familie. Aber sie hatte ihren Glauben an die Magie verloren. Sie hatte die Bedeutung und den Zweck ihrer Existenz verloren. Und noch dazu den Mann, den sie liebte. Sie sah keinen Grund zum Lachen.
»Ich wollte, dass du dein Haus behalten kannst«, sagte sie. »Ich weiß, wie viel es dir bedeutet. Es ist immer dein Traum gewesen.«
»Es war nur ein Haus«, erwiderte er in frostigem Tonfall. »Versteh mich nicht falsch, ich habe dieses Haus geliebt. Aber es ist nicht meine Familie. Es war etwas, das ich geliebt habe, aber nicht jemand, den ich geliebt habe.« Er sah sie mit düsterem Blick an. »Ich hätte das Haus und noch tausend andere dazu in Brand gesetzt, wenn ich dich damit von dem hätte abhalten können, was du getan hast.«
Ihre Beine wollten sie nicht länger tragen, und sie setzte sich auf die unterste Treppenstufe. Sie ließ das Gesicht in die Hände sinken und blickte dann wieder auf, ohne sich um ihre Tränen zu kümmern. »Wieso bist du hier?«, rief sie. »Warum bist du hierhergekommen? Damit ich mich noch schlechter fühle? Um mich an all die Dinge zu erinnern, die ich verloren habe, als ich an jenem Tag dein Haus verließ? Damit ich mir zum zehntausendsten Mal wünsche, ich könnte alles zurücknehmen und noch einmal anders machen?«
Er kniete sich vor sie und hielt ihre Unterarme fest. Sie versuchte, sich aus seinem Griff zu lösen. »Warum kannst du das nicht?«, verlangte er zu wissen. »Weshalb kannstdu es nicht einfach zurücknehmen? Was könnte an diesem Punkt noch Schlimmes passieren?«
»Ich weiß es nicht«, schluchzte sie. Die Tränen rollten ihr ungehemmt übers Gesicht. »Alle fragen mich das ständig, aber ich weiß es nicht. Ich habe keine Antworten. Ich kann nichts dazu sagen.«
»Vielleicht ist das ja deine Antwort«, erwiderte Vic. Er ergriff ihre Hände und hielt sie so fest, dass es weh tat. »Aubrey, diese letzten Monate ohne dich waren die Hölle. Ich habe mir immer wieder gesagt, ich müsse
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