Die Wuensche meiner Schwestern
Tarrytown wurde von einer glatten Eisschicht bedeckt, während das Energieunternehmen sich bemühte, die Stromversorgung wieder in Gang zu bringen, und Schneepflüge durch die Straßen geschickt wurden.
Aubrey bewegte sich wie ihr eigener Geist durch die Strickerei und nahm weder das Eis wahr, das die Fensterscheiben überzog, noch das Pfeifen des Teekessels oder die Schneelawinen, die von den Dachrinnen herunterkrachten. Sie nahm keine Stricknadel in die Hand. Sie las nicht einmal. Sie ging zu ihren Schichten in die Bibliothek, sie spielte mit dem Igel und säuberte seinen Käfig, sie bestellte scharfe Dragonrolls und fühlte sich dabei die ganze Zeit, als wäre sie unter Wasser. Manchmal klappte sie das »Große Buch im Flur« auf, doch statt darin zu lesen – die Namen all der Hüterinnen, die Listen der Opfergaben, die Bemerkungen und behutsamen Anleitungen der Frauen, die vor ihr gegangen waren –, starrte sie einfach nur darauf. Das Herz in ihrer Brust war so schwer vor Schuld, dass es ihr die Schultern niederzog. Sie hatte alles gegeben, wozu sie imstande war, mehr würde sie nicht ertragen können. Aubrey verbot sich jeden Gedanken an Vic – daran, was ergerade tat oder was er empfand oder wo er war, während sie selbst an die Decke starrte oder unter der Dusche stand, bis das Wasser kalt wurde. Hätte sie auch nur einen Moment an ihn gedacht, an seine funkelnden Augen und sein breites Lächeln, hätte es ihr den Rest gegeben.
Vic war ihre einzige Chance gewesen. Es konnte entweder Vic sein oder gar niemand. Nun war es niemand.
Der einzige Lichtblick waren ihre Schwestern. Meggie hatte sich in der Strickerei häuslich niedergelassen und einen Job in einem Reisebüro in Manhattan gefunden. Auf den ersten Blick schien sie sich nun mit Bleistiftröcken und Blazer deutlich gediegener zu kleiden, doch meist trug sie dazu Blusen mit Pailletten und ein sexy rosa Strumpfband unter dem Rock. Abends schlüpfte sie in ihre Rollschuhe und nahm ihren Platz bei den Flying Dutchesses ein.
Auch Bitty blieb in der Strickerei. Ihre Kinder waren auf Schulen in Tarrytown gewechselt, und sie hatte begonnen, sich über Kurse für ihre Weiterbildung zu informieren. Sie suchte nach einer Wohnung, hatte jedoch keine allzu große Eile, die letzten Wochen der Familie in der Strickerei noch zu verkürzen. Mehrmals suchte sie ihren Anwalt auf, merkte aber bald, dass sie besser darin war, ihre Scheidung zu verhandeln, als er.
Der Winter verging, und noch immer behandelten Bitty, Meggie und sogar die Kinder Aubrey mit der sorgsamen Behutsamkeit und Vorsicht, mit der Frauen vergangener Zeiten ihre Wolle zum Trocknen an Spannhaken gehängt hatten. Aubrey war ihnen für ihre Bemühungen dankbar, während sie selbst versuchte, sich aufzurappeln und sich tapfer zu zeigen.
Sie sprachen nicht über den Verlust der Strickerei oder den Verlust der Magie, wie es sich für Aubrey anfühlte. Jeder Tag brachte ein Aufflackern der unwiderstehlichen Hoffnung mit sich, dass vielleicht doch noch etwas geschehen,dass irgendjemand sie in letzter Minute retten würde und die Strickerei bestehen bleiben könnte. Und jeden Tag musste Aubrey diese Hoffnung auf Glück von neuem gewaltsam unterdrücken. Denn selbst wenn die Strickerei wie durch ein Wunder noch nachträglich gerettet würde, bekäme sie Vic trotzdem nie wieder zurück.
Aubrey hatte sich vor die Bewohnerinnen von Tappan Square gestellt und sich für die Strickerei verbürgt. Sie hatte die Frauen natürlich gewarnt, dass der Zauber misslingen könnte, aber in ihrem Herzen hatte sie nicht daran geglaubt, und ihr Handeln hatte ihre wahren Gefühle laut und mit mehr Nachdruck hinausposaunt, als die Worte besaßen, die sie im Gegensatz dazu aussprach. Die Frauen von Tappan Square hatten Aubreys Warnungen als juristische Standardformulierung abgetan und sich stattdessen an den Kern dessen gehalten, was sie ihnen darlegte: Wenn sie sich nur genug Mühe gaben, würde die Magie sie nicht enttäuschen. Wie schrecklich es war, dachte Aubrey nun oft, ihr blindes Vertrauen in die Magie vor allen verkündet zu haben, nur um von ihr im Stich gelassen zu werden. Sie wusste nicht, ob sie das zu einer Märtyrerin oder zu einer Idiotin machte. Sie wusste nicht einmal, ob es da einen Unterschied gab.
Der Plan des Stadtrats, Tappan Square niederzureißen, schritt mit jedem Tag weiter voran. Ein Grundstück nach dem anderen wurde an die Gemeinde verkauft, immer mehr Leute verschwanden aus Tappan Square,
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