Die Wunderheilerin
dann setzte sie sich daneben, betete ein Vaterunser und wartete.
Lange saß sie so. Ab und zu stöhnte Adam auf. Priska wusste, dass er nicht bewusstlos war, sondern in einem Zustand, dem man keinem Menschen wünschte. Adam war am Ende, hatte wortlos seinen menschlichen Bankrott erklärt.So nannte man in Italien diesen Zustand: banca rotta. Andreas Mattstedt hatte es ihr einmal erklärt. Banca rotta hieß so viel wie zerstörte Bank. Man zerschlug den Tisch des Händlers, wenn dieser nicht zahlen konnte.
Adams Leben war zerschlagen wie der Tisch eines Händlers. Er liebte Männer und musste eine Frau heiraten. Er wurde für einen Sünder gehalten und war doch der gottesfürchtigste Mensch. Er stand außerhalb der Norm, der Werte, der Moral. Woran sollte er sich halten? Er war allein. Gottverlassen.
Armer Adam, dachte Priska. Seine Einsamkeit und Verlorenheit taten ihr weh. Sie wusste, wie es sich anfühlte, verlassen und ungeliebt zu sein. Die Leute sagten, dass er ein Sünder sei, der von einem Dämon der widernatürlichen Unzucht besessen sei. Aber gab es überhaupt einen Unterschied zwischen guter und schlechter Liebe? Priska hatte schon oft darüber nachgedacht.
Da war die Liebe zwischen ihrem Vater, dem Henker, und der Kräuterfrau gewesen. Sie hatte etwas Rohes an sich gehabt. Priska erinnerte sich gut, wie sie mit dem Vater und den Geschwistern in einer Ecke der Kate auf Strohsäcken geschlafen hatte. Sieben Menschenleiber, die sich aneinander drängten, die schnarchten, schwitzten, stöhnten. Manchmal war die Kräuterfrau dazugekommen, hatte sich an den Henker geschmiegt und ihre Röcke gelüpft. Priska hatte mehr als einmal gesehen, wie die Hand des Henkers sich unter den Röcken zu schaffen gemacht hatte, wie die Kräuterfrau gekeucht und das Gesicht verzogen hatte, wie sie den Kopf hin und her geworfen und mit dem Schoß gekreist hatte. Und dann hatte der Henker seine Beinkleider vom Hintern gezogen und sein Glied, das dick und dunkelwie ein Ast war, in das Weib gerammt, als wolle er es pfählen. Priska hatte immer geglaubt, das Weib schrie vor Schmerzen, aber eines Tages hatte sie gespürt, wie es heiß in ihrem Schoß brannte. Da hatte sie begriffen, dass das Weib nicht vor Schmerzen schrie. Seither hatte Priska Furcht vor sich selbst. Das Brennen in ihr hatte sie entsetzt. So sehr, dass sie es vergaß und froh war, als sie merkte, dass Regina das Brennen für sich entdeckt und Priska davon befreit hatte. Für sie hatte Liebe nichts mit Wollust zu tun. Im Gegenteil: Wollust war eine der sieben Todsünden.
Plötzlich wandte Adam den Kopf. Er sah Priska an, doch seine Augen waren so leer wie ein vertrockneter Brunnen.
Er sprach kein Wort. Auch Priska sagte nichts. Sie legte ihm eine Hand an die Wange, und Adam schmiegte sich in ihre warmen Finger.
Seit sechs Jahren kannte Priska Adam nun. Nein, das stimmte nicht. Sie kannte ihn nicht und er sie noch weniger. Wie auch? Sie war das Lehrmädchen gewesen, hatte ihm den Teller mit Grütze hingestellt, Wein eingeschenkt. Manchmal hatte er sie angesehen und ihr zugenickt. Später dann hatte er sie in sein Laboratorium gerufen. Er hatte sie betrachtet wie ein Arzt eine Kranke, hatte sie gefragt, wie sie in der Vorstadt gelebt hatte. Freundlich war er gewesen, doch seine Freundlichkeit hatte die Unverbindlichkeit, mit der man einem kleinen, zutraulichen Tier über den Kopf strich. Geredet hatten sie nie miteinander. Nur hin und wieder ein paar nichts sagende Worte. Priska aber hatte ihn beobachtet. Ihn, den klugen Mann mit dem schmalen Mund, der immer so aussah, als würde er ein wenig spotten. Ihn, der meist schwieg, von dessen Leben niemand etwas wusste. Auch Eva nicht.
Nun lag er neben ihr, Körper und Seele entblößt, und schmiegte seine Wange in ihre Hand.
Nach einer Weile flüsterte er: «Ich wollte mir den Dämon der Unzucht austreiben. Ich habe mich nackt in Brennnesseln gewälzt, habe mich mit Ruten gegeißelt, bis das Blut lief.»
«Ihr wolltet rein zur Beichte gehen? Wolltet vorher schon Reue üben?», fragte Priska leise.
«Eva kam mit einem Teufelsaustreiber, einem Mönch des Paulinerklosters, zu mir. Er hat mein Haus mit Weihrauch ausgeräuchert, hat die Heiligen angerufen und Beschwörungen gemurmelt. Mit Kreide hat er Kreuzzeichen über allen Türbalken angebracht. Dann hat er mir eine zweiwöchige Fastenzeit und die Geißelung aufgetragen, damit der Dämon entschwinde.»
«Aber es gelingt nicht?»
Adam seufzte. «Ich weiß es nicht,
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