Die Wunderheilerin
Ihr seid der Arzt. Ich kenne nur ein paar Pflanzen und weiß, wie sie wirken. Die meisten Leute in der Vorstadt wissen um solche Dinge. Sie müssen sich ja selbst helfen. Einen Arzt können sie nicht bezahlen. Der Henker, mein Vater, hat die Leute aus der Vorstadt behandelt. Er war nicht nur Henker, sondern auch Chirurg, Bader und Barbier. Die meisten Henker verdienen sich mit solchen Diensten ein paar Heller dazu. Die Kräuterfrau war und ist die Apothekerin der armen Leute.»
«Ja, davon habe ich viel gehört», sagte Adam. «Die Kräuterweiber haben großes Wissen über Pflanzen und Tiere, über den Lauf des Mondes und der Sterne.»
Priska half Adam auf die Beine. Als sie sein Büßerhemd vom Boden hob, um es ihm überzuziehen, fiel ihr auf, dass der Mann die ganze Zeit über nackt gewesen war. Nackt bis auf ein Tuch, das er sich um die Lenden gewickelt hatte.Warum habe ich seine Blöße nicht gesehen?, fragte sie sich und betrachtete nun neugierig seinen von Wunden entstellten Oberkörper. Sie ließ ihren Blick über den breiten Brustkorb gleiten und die Oberarme, die aussahen wie die eines Holzfällers. Stark wirkte sein Körper. Stark und zerbrechlich zugleich. Es ist wirklich so, dachte Priska. In jedem Ding wohnt zugleich sein Gegenteil. In Adam wohnt die Schwäche neben der Stärke.
Adam merkte, dass Priska ihn musterte. Er sagte kein Wort, nahm nur ihre Hand und legte sie auf seine Brust. Ihr war, als könnte sie sein Herz schlagen hören.
Als sie zum Stadttor zurückgingen, hielten sie sich an den Händen. Nicht wie ein Liebespaar, eher wie zwei Kinder, die sich im Wald des Lebens verirrt hatten.
Fünftes Kapitel
«Die Hochzeit ist der schönste Tag im Leben einer Frau», erklärte Regina und zog einen Schmollmund. «Warum darf ich diesen Tag nicht feiern, wie ich will? Warum darf ich meine Freunde und Freundinnen nicht dazu einladen? Was ist mit meiner Familie?»
«Untersteh dich! Deine Freunde und deine Verwandten haben auf dem Hochzeitsfest nichts zu suchen. Ich verheirate dich nicht, um dich glücklich zu machen, sondern um Adam zu schützen und meine Pflicht als dein Vormund zu erfüllen. Für dich ist dies ein gesellschaftlicher Aufstieg, der dir aus eigenen Kräften niemals gelungen wäre. Die Hochzeit wird so gefeiert, wie es in unseren Kreisen Sitte ist. Sogar noch ein wenig prächtiger. Schließlich wollen wir das Gerede zum Verstummen bringen», beendete Eva die Diskussion. Sie stand mit Priska und Regina in der Werkstatt und hatte keine Lust auf lange Dispute.
Doch Regina gab nicht so leicht auf. «Und ein neues Kleid? Bekomme ich wenigstens ein neues Kleid?», fragte sie weiter.
Eva seufzte. «Ich werde sehen, ob ich in meiner Truhe etwas für dich finde. Auch eine kleine Aussteuer sollst du haben.»
Sie stöhnte leise und fuhr mit den Händen über denschweren Bauch, der sich in den letzten Tagen gesenkt hatte. Die Schwangerschaft machte ihr zu schaffen. Die Arbeit in der Werkstatt fiel ihr schwer; Priska hatte schon lange bemerkt, dass die Hitze der Brennöfen Eva nicht gut tat.
«Ein Schmuckstück?» Regina blieb hartnäckig.
«Wir werden sehen. Die Wäsche, die für dich bestimmt ist, zeige ich dir morgen. Du wirst dich nicht schämen müssen.»
Eva war sehr blass geworden. Auf ihrer Stirn standen kleine Schweißperlen. Sie presste eine Hand in den Rücken und stöhnte.
Sofort trat Priska zu ihr. «Was ist mit Euch?»
«Ich weiß nicht.» Eva griff nach Priskas Hand. «Ich glaube, dass Kind kommt.» Ihre Augen waren vor Angst ganz dunkel.
«Ist es denn schon so weit?», fragte Priska.
Eva schüttelte den Kopf. «Im Mai sollte es kommen. Jetzt haben wir April.»
Priska reichte Eva einen Becher Wasser. Sie war schon dabei gewesen, wenn Frauen Kinder bekamen. Das Kräuterweib aus der Vorstadt hatte sie manchmal mitgenommen und als Gehilfin gebraucht. Die Kreißenden wurden auf einen Gebärstuhl gesetzt. Priska hatte hinter ihnen gestanden und ihnen den Rücken gestützt, während sich das Kräuterweib unter den Röcken der Gebärenden zu schaffen gemacht und am Ende ein verschmiertes Kind in den Armen gehalten hatte.
Eva stöhnte auf und krümmte sich zusammen. Priska legte ihr eine Hand auf den Leib. Sie konnte das Kind spüren, es bewegte sich. Plötzlich schrie Eva leise auf, und imselben Augenblick lief Wasser an ihren Beinen hinunter. «Schnell, holt die Hebamme», keuchte Eva.
Priska ahnte, dass dafür nicht mehr genug Zeit blieb.
«Lauf, hole die Hebamme», befahl
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