Die wundersame Geschichte der Faye Archer: Roman (German Edition)
Fenster, hoffte, einen Motorroller in der Straße unter ihr zu entdecken, und schließlich setzte sie sich vor das Klavier, starrte die Tasten an und begann zu klimpern. Ihre Fingerspitzen zauberten nach und nach eine unscheinbare Melodie in die Stille. Als die Melodie vorbei war, schaltete sie den Laptop ein und las noch einmal die Mails von letzter Nacht. Dann noch mal. Und ein letztes Mal.
»Faye Archer«, sagte sie laut zu sich selbst, »das reicht jetzt aber!« Manchmal musste man eben energisch mit sich selbst sein. Sie stand auf, zog die Schuhe an, die sie zuallererst getragen hatte, musterte sich trotzig im Spiegel und beschloss, genau so aus dem Haus zu gehen. Sie würde zu Fuß gehen, wie gestern, weil sie so noch etwas Zeit hatte, ihren Gedanken nachzuhängen. Sie würde einen Plan haben und vorbereitet sein, wenn sie im Real Books ankam. Ja, alles würde gut werden, wenn nicht heute, wann dann?!
So machte sie sich, etwas umständlicher als noch am Vortag – sie fand zwar den Schlüssel, musste aber das Skizzenbuch suchen, das unter dem Klavier lag, ohne dass sie eine Ahnung gehabt hätte, wie es dorthin gekommen war –, auf den Weg zur Arbeit.
Unterwegs kaufte sie sich am Kiosk an der Ecke einen Kaffee im Pappbecher und betrachtete sich im Schaufenster einer Boutique. Sie war heute wirklich sehr grün, ohne Punkte, dafür mit Kleid und lila Chucks. Sie war wachsamer als sonst, achtete auf Motorroller, sah keinen einzigen und vergewisserte sich ein paarmal, dass sie auch das Skizzenbuch nicht irgendwo unterwegs aus Schusseligkeit vergessen hatte. Selbst jetzt beneidete sie Dana, die in Situationen wie dieser viel gefasster wäre. Dana Carter war sich ihrer Ausstrahlung bewusst, und Faye wünschte sich inständig, ein wenig von diesem Selbstbewusstsein zu besitzen.
Damals, als sie Dana zum ersten Mal begegnet war, hatten sie beide noch die Columbia besucht.
Sie waren einander zufällig begegnet. Faye Archer hätte jemanden wie Dana Carter niemals angesprochen, und Dana Carter hätte jemanden wie Faye Archer bestenfalls mit einem verachtungsvollen Blick gestraft. Faye war durch und durch eine Kunststudentin, um genau zu sein: Music & Arts, und Dana konnte nicht verbergen, dass sie einen Master in einem Fach wie Business Administration oder Marketing Management anstrebte. Faye hatte sie des Öfteren in der Cafeteria am College Walk gesehen, immer von hemmungslos gut aussehenden Studenten umschwärmt, selbstbewussten Ostküsten-Jungs, deren Klamotten darauf schließen ließen, dass sie Eltern hatten, die ihre Wochenenden auf Martha’s Vineyard oder in den Hamptons verbrachten und die nur deswegen in New York studierten, weil die Clubszene hier angesagter war als die in Boston. Dana Carter war so, wie jedes Mädchen gern gewesen wäre. Ihr Gesicht hatte dieses gewisses Etwas, das die Gesichter hatten, die einen von den riesigen Plakaten anstarrten, ganz zu schweigen von ihrer Figur.
Nie hätte Faye gedacht, das blonde Mädchen mit dem perfekten Teint kennenzulernen, doch das Schicksal wollte es, dass sie an einem Nachmittag im Winter denselben Aufzug in der Bibliothek benutzten, ein altes, rostiges Ding, dessen beste Zeiten schon vor Jahrzehnten vorüber gewesen waren. Normalerweise verirrte sich Faye nicht in die Abteilung D an der West 120 th Street; Music & Arts war gegenüber, in der Abteilung E am College Walk, untergebracht. Doch an diesem Tag hatte es sich Faye in den Kopf gesetzt, über die Gründung einer richtigen Band nachzudenken, und es schien ihr eine gute Idee zu sein, sich dazu einige Bücher über die Musikbranche auszuleihen.
Dana Carter bedachte Faye, als diese noch schnell zu ihr in den Aufzug schlüpfte, mit einem leicht abschätzigen Blick, und Faye senkte die Augen, weil sie ihre Ruhe haben wollte.
Dann blieb der Aufzug stecken, das Licht flackerte unruhig, und eine seltsam schummrige Notbeleuchtung schaltete sich ein.
Faye drückte den Notschalter und wartete.
»Was passiert jetzt?«
»Sie werden jemanden kommen lassen, der den Aufzug repariert.«
Dana nickte.
Schweigend standen sie beide im Aufzug. Im Kosmos der Columbia kamen sie aus Welten, die Lichtjahre voneinander entfernt lagen und nicht die geringste Gemeinsamkeit vorzuweisen hatten. Nach einer Viertelstunde setzte Faye sich in eine Ecke, schloss die Augen und versuchte, ein wenig zu dösen. Als sie eine Hand an ihrer Schulter spürte, die sie fest und kräftig rüttelte, hätte sie beinah laut aufgeschrien.
»Du
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