Die wundersame Geschichte der Faye Archer: Roman (German Edition)
University.
»Hab alles im Griff«, versicherte sie ihm.
Und schon war er weg.
In den folgenden Stunden war Faye so sehr zum Seufzen zumute wie lange nicht mehr. Nicht, dass keine Kunden den Laden aufgesucht hätten. Sie hatte mehr zu tun als an anderen Tagen. Eine alte Dame verwickelte sie in ein Gespräch über Thomas Wolfe und Schau heimwärts, Engel; ein Mathematiklehrer aus Bushwick wollte wissen, ob er einem Kollegen, der in den Ruhestand ging, lieber Ken Kesey oder Stewart O’Nan schenken sollte, Faye empfahl ihm John Irving, und so ging es fast den ganzen Vormittag. Die Kunden kamen und gingen, aber von Alex Hobdon keine Spur.
Sie starrte die Uhr an, die an der Wand hing. Der Tag war schon halb vorbei. Sie fühlte sich wie jemand, den Israel Kamakawiwo’ole besingt; wie jemand, der im Tempo eines Stücks von Miles Davis gefangen ist.
»Okay«, murmelte sie entschlossen.
Dann öffnete sie die Schublade und nahm das Skizzenbuch heraus, schlug es auf, blätterte verstohlen darin herum und hoffte inständig, dass Alex nicht unbedingt jetzt, in diesem Augenblick, den Laden betreten würde. Er hatte viele Häuser gezeichnet. Treppen, die zu Türen hinaufführten. Fenster, die wie Augen waren, oder zumindest hatte er sie so gezeichnet, dass einen der Eindruck beschlich, es könnte so sein. Es gab auch Bäume und Büsche, Straßenlaternen, oftmals einzeln gezeichnet, hin und wieder auch so, dass man ein Straßenbild erahnen konnte, eines, das man überall hier antreffen konnte. Zwischen den Blättern mit den Häuserskizzen waren Gesichter gezeichnet. Eine Frau, die ein schwarzes Kleid trug – daneben stand eine hingekritzelte Anmerkung: Givenchy –, die Haare hochgesteckt, das Gesicht kaum mehr als eine schraffierte Fläche. Eine Katze und ein Yellow Cab, ein Klavier und ein Wohnzimmer mit Art-déco-Möbeln aus den 60ern.
Faye betrachtete die Skizzen gedankenverloren, und dann fragte sie sich, was sie überhaupt tun würde, wenn sie ihn sähe. Sie malte sich einige Gespräche aus, aber keines davon war mehr als ein Tagtraum. Alex Hobdon kam nicht, dafür erschien nach gut drei Stunden Mica Sagong, ruhig und freundlich lächelnd, und entließ Faye in die leicht verspätete Mittagspause.
»Etwas Interessantes passiert?«, fragte er.
Sie schüttelte den Kopf. »Das Skizzenbuch liegt in der Schublade. Nur für den Fall, dass jemand danach fragt.«
»Bis später«, sagte Mica.
Faye schnappte sich ihre Tasche und lief nach draußen ins Septemberblau, die Straße hinunter, an den Geschäften und dem Waschsalon vorbei, zum D-Diner, einem umgebauten Greyhound-Bus, der aussah, als wäre er zur Hälfte in ein Haus aus roten Backsteinen eingemauert. Faye nahm an einem der runden Tische Platz, ließ sich in den am Boden festgeschraubten Bussitz sinken und bestellte sich einen Erdbeer-Milchshake und ein Stück Kirsch-Käsekuchen, in das sie in den folgenden zehn Minuten kleine Löcher bohrte, ehe sie die winzigen Stückchen auf den Zinken der Gabel balancierte und sie sich schließlich auf der Zunge zergehen ließ.
Wieder und wieder fiel ihr Blick auf die Straße. Kein Motorroller, kein Alex, nichts.
Sie dachte sich den Anfang eines Liedes aus, aber die Melodie löste sich so schnell auf wie der Schaum auf dem Milchshake. Nichtstun konnte wirklich so was von anstrengend sein.
Sie gähnte.
Dann vibrierte ihr Handy. Träge kramte sie in ihrer Tasche nach dem roten Ding, fand es.
»Mist!«
Sie starrte die SMS an, die Mica ihr gerade geschickt hatte.
Komm her!
Das war alles.
Komm her! Mit Ausrufezeichen.
War das denn die Möglichkeit?
Faye sprang auf, fingerte nach ihrem Portemonnaie, zahlte und rannte los. Sie spürte, wie ihr Herz auf Rock ’n’ Roll umschaltete. Sie rannte und rannte. Es war ja nicht weit, nur zwei Straßen. Herrje, warum war sie nicht einfach dort geblieben, im Laden. Sie verfluchte sich selbst, den Milchshake, die Zeit, den Kirsch-Käsekuchen, das D-Diner, die Autos, jede rote Ampel und jeden Fußgänger mit Hund, dessen Leine und Gekläff sie ausweichen musste.
Als sie den Buchladen erreichte, war er nicht mehr da. Sie blieb stehen und sah Mica an.
»Wie lange ist er schon weg?«, keuchte sie.
»Ich wollte ihn in ein Gespräch verwickeln, aber er hat nicht angebissen. Er war in Eile.«
»Mist.« Oh, Mann, sie war fast den Tränen nahe. »Mist, Mist, Mist.« Sie ließ enttäuscht die Schultern hängen. Sie hatte ihn draußen auf der Straße gar nicht gesehen. Hätte sie ihn nicht
Weitere Kostenlose Bücher