Die wundersame Geschichte der Faye Archer: Roman (German Edition)
es einigermaßen windstill war. Zitternd kramte sie ihr Handy aus der Tasche und rief Aaron an. Mica hatte recht, sie wollte nicht allein bleiben. Warum war man mit jemandem zusammen, wenn nicht, um in einer Situation wie dieser nicht allein sein zu müssen?
Das Wetter wurde schlimmer. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite lief ein Fernsehgerät im Schaufenster. NBC brachte Bilder von einem Jet-Ski-Fahrer, der drüben vor Liberty Island in den Wellen herumkurvte. Was für ein blöder Idiot, dachte Faye. Dann zeigten sie die U-Bahn in Manhattan. Viele der Stationen waren schon geflutet. Der Busverkehr in der Stadt, so die Tickermeldung, war seit einer halben Stunde eingestellt. Man sollte es vermeiden, draußen herumzulaufen.
Okay, so langsam bekam sie es mit der Angst zu tun. So richtig!
Aaron meldete sich. Er hörte sich an, als sei er auf dem Mond. »Wo bist du?«
»In der Galerie«, sagte er, »wo sonst?« Er klang gehetzt, geschäftig. Sie sah ihn vor sich, wie er durch die helle Lagerhalle seiner Galerie lief, das Smartphone dicht und lässig ans rechte Ohr gepresst, und mit wildem, wütendem Fingergeschnipse und ungeduldigen Gesten seinen gehetzten Angestellten Anweisungen erteilte.
»Es soll noch schlimmer werden.«
»Ich verstehe dich kaum.«
Den nächsten Satz brüllte sie ins Telefon: »Ich bin mitten im Sturm!«
»Okay, okay.« Er klang entnervt. » Warum bist du mitten im Sturm? Geh nach Hause. Da ist es sicher.«
»Ich bin auf dem Weg nach Hause.«
»Holly, du solltest in deiner Wohnung bleiben.«
»Ich bin gleich dort.«
»Was?«
Der Wind pfiff ihr um die Ohren. »Kommst du später zu mir?«
Aaron lachte. »Ist das dein Ernst?« Es war nicht irgendein Lachen, sondern ein schallendes Lachen. So, als habe sie etwas völlig Dämliches gesagt.
Sie presste ein »Ja!« hervor.
Meine Güte! Natürlich war es ihr Ernst!
Sie glaubte nicht, dass er sie verstanden hatte.
»Bei dem Sturm gehe ich nirgendwohin«, sagte er. Seine Stimme entfernte sich, weil er nicht mit ihr sprach: »In die Kisten, ja, Scheiße, wohin denn sonst, oh, Mann, das sind O-ri-gi-na-le.« Dann schrie er laut und deutlich: »Muss man denn alles selber machen?« Es knisterte in der Verbindung. Aaron packte selbst mit an. Typisch! Dann, nach einer Weile: »Holly, bist du noch da? Tut mir leid, es ist gerade die Hölle los.«
»Bleibst du in der Galerie?«
»Wo sonst?« Wieder hatte sie das Gefühl, etwas durch und durch Dämliches gesagt zu haben.
»Die Gegend soll evakuiert werden«, sagte sie. »Und …«
»Deswegen bin ich ja hier.« Er schnaubte. »Oh, verdammt noch mal, weißt du, Holly, die können mich mal. Ich bleibe hier. Kein beschissener Polizist bringt mich von hier weg.« Wieder entfernte sich seine Stimme. »Ja, nach oben, logisch, wohin denn wohl sonst, auf den Parkplatz vielleicht?« Dann sagte er, wieder an Faye gerichtet: »Alles, was mein Leben ausmacht, alles, was mir wichtig ist, ist hier. Holly, du musst das verstehen. Ich kann die Galerie nicht allein lassen.«
»Aaron, bitte!« Oh, sie hasste es, wenn sie flehen musste. »Komm später zu mir.«
Pause.
Störgeräusche.
»Geht nicht. Wir evakuieren alles in die höher gelegenen Stockwerke. Sie haben gesagt, dass die Sturmflut am frühen Abend die Stadt erreichen wird. Chelsea und die Upper West melden schon Hochwasser. Scheiße, Holly, es geht hier um wichtige Bilder. Bedeutende Kunst. Ich kann hier nicht weg.«
Sie seufzte. »Viel Glück«, sagte sie, vermutlich zu leise, als dass er es wirklich hätte verstehen können, und legte auf.
»Dann eben nicht«, sagte sie so laut, dass es jeder gehört hätte, wäre nur jemand da gewesen. Die Straße aber war verwaist, es sah gruselig aus.
Faye verließ ihre Deckung im Hauseingang und rannte geduckt die Straße entlang.
Kurz darauf erreichte sie die Montague Street.
Sie wich einigen herabfallenden Ästen aus. Auch der Baum vor ihrem Fenster krümmte sich im Sturm. Sie schaute nach oben, zu den Fenstern ihrer Wohnung. So wie es aussah, war alles in Ordnung.
Die Kaffee-Pflanze, schoss es ihr durch den Kopf.
Sie war noch da!
Juhuu!
Faye stürmte ins Haus, die Treppe hinauf, hinein in die Wohnung. Sie stellte die völlig durchnässte Papiertüte mit dem Essen auf den Boden, hinter ihr schlug die Wohnungstür zu. Sie ging mit schnellen Schritten zum Fenster, öffnete es, duckte sich vor dem Sturm, der sofort hereinpfiff und einen Stapel dicht bekritzelter Notizblätter vom Klavier wehte,
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