Die wundersame Geschichte der Faye Archer: Roman (German Edition)
würde. Keine paar Stunden würde es mehr dauern. Schon jetzt wirbelte Müll über die Gehwege, der Sturm fegte die letzten bunten Blätter von den Bäumen und klatschte sie wütend auf den nassen Asphalt. Es regnete, und es war ein böser Regen, gepeitscht von den ersten Böen, die kleinere Verwüstungen anrichteten. Mülltonnen kippten um, manche rollten über die Straße; Briefkästen klapperten und zitterten im Wind; die Autos, die noch unterwegs waren, fuhren hektisch und mit, so sah es jedenfalls aus, vor Furcht geweiteten Scheinwerfern. Die Polizei errichtete Straßensperren, unten am East River, wie man hörte, bei den Piers, und an den wichtigen Knotenpunkten überall in der Stadt. Es war keine Frage, dass man mit dem Allerschlimmsten rechnen musste.
Mica schloss das Real Books schon am Mittag.
»Kein Mensch kauft sich Bücher«, sagte er, »nicht bei diesem Mistwetter.«
»Glaubst du, dass es eine Überschwemmung geben wird?«
Er sah heute wirklich zerknirscht aus, so besorgt, wie sie ihn normalerweise nicht kannte. »Alles ist Karma«, sagte er gefasst. »Ich habe schon einige Unwetter erlebt. Letztes Jahr hatten wir Hurrikan Irene , du erinnerst dich, den haben wir auch überstanden.«
Und wie sich Faye daran erinnerte. Sie hatte sich ängstlich in ihrer Wohnung verkrochen, die ganze Zeit über an den Anfang von Der Zauberer von Oz denken müssen und gezittert.
»Normalerweise«, beruhigte sie Mica, »kommt das Wasser nicht bis hierher.« Er betrachtete die Regalreihen. Faye wusste, was er jetzt dachte. Er fragte sich, welche Bücher es in Mitleidenschaft ziehen würde, käme es doch zu einer Überschwemmung. Sollten sie noch mehr Bücher nach oben tragen? Welche Verluste wären schmerzhaft? Die Graphic Novels jedenfalls und die Comics waren in Sicherheit; die meisten befanden sich in entsprechenden Regalhöhen.
»Es wird schon nichts passieren«, meinte Faye. »Wir haben bestimmt Glück, ganz sicher.« Mut machen war jetzt angesagt, eindeutig.
»Sehe ich genauso.«
Am Vortag hatte der Bürgermeister die ersten Evakuierungen befohlen. Tribeca und weite Stadtteile im Süden Manhattans waren von den Maßnahmen betroffen gewesen. Die Bewohner dort hatten ihre Häuser verlassen müssen. Ein Albtraum, davor fürchtete Faye sich am meisten. Sie liebte ihre kleine Wohnung, dort fühlte sie sich geborgen. Jetzt näherte sich Sandy mit Riesenschritten. Die Schulen und Universitäten schlossen und wurden zu Evakuierungszentren, nicht zuletzt für die Bewohner, die New Jersey und Long Beach verlassen mussten; dort war die Gefahr einer Sturmflut am größten.
»Außerdem«, sagte Mica, »werden wir nicht verhungern.«
»Na, immerhin.«
Verdursten würden sie auch nicht.
Inzwischen hatten die ausufernden Hamsterkäufe zu Engpässen in den meisten Supermärkten geführt. Die Regale waren überwiegend völlig leer geräumt. Das Wasser war als Erstes knapp geworden. Batterien und Lebensmittelkonserven hatten ebenso reißenden Absatz gefunden.
»Es wird nicht so lange dauern«, sagte Mica. »Die Menschen rüsten sich für eine wochenlange Katastrophe.« Er schüttelte den Kopf. »Es wäre auch in solchen Momenten gut, wenn man einfach mal nachdenken würde.«
Faye wusste es besser. »Die meisten Menschen denken aber nicht nach«, sagte sie.
Mica nickte nur.
»Die Türen noch«, stellte sie fest. Dann wären sie fertig. Sie schlossen die Türen und drückten alte Handtücher in die Schlitze am Boden.
»Glaubst du, das hilft?«
Mica schüttelte den Kopf. »Aber es gibt uns das Gefühl, vorbereitet zu sein.«
Das klang nicht tröstlich, nur verloren. Faye fühlte sich nicht vorbereitet.
Sie hasste Unwetter. Schneestürme, okay, die waren nicht schlimm. Sie hatte schon mehr als einen heftigen Blizzard erlebt, seit sie in New York lebte; und in Redwood Falls waren die Winter wirklich schrecklich gewesen, und zwar immer, ohne eine einzige Ausnahme. Meterhoch hatte alles im Schnee gesteckt, der Strom war oft ausgefallen, man hatte sich tagelang aus Dosen ernährt. Sie hatte auch schon Hurrikans erlebt, aber die waren alle nicht vergleichbar gewesen mit dem, der auf dem Weg hierher war.
»Du siehst nicht so aus, als würdest du den Tag genießen«, meinte Mica.
»Ich habe Angst.« Warum es nicht zugeben?
»Es wird vorübergehen.«
»Ich weiß. Ich habe trotzdem Angst.«
Mica machte ihnen beiden Tee aus frischen Ingwerwurzeln mit Zitrone und zündete ein Räucherstäbchen an. »Finde die Ruhe immer in dir
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