Die wundersame Geschichte der Faye Archer: Roman (German Edition)
Augenblick war es gut, so, wie es war. Aaron tat ihr gut, und Alex Hobdon war von der Bildfläche verschwunden.
»Er ist ein Lügner«, pflegte Dana zu sagen.
»Ja, sieht wohl so aus«, antwortete Faye ein wenig ratlos und unverbindlich.
Rückblickend kamen ihr die wenigen Wochen, die den September enden und den Oktober größtenteils verstreichen ließen, wie eine lähmend langsame Abfolge von Filmszenen vor. Zur Musik von Miles Davis sah sich Faye ihr Leben leben. In den Straßen von Brooklyn Heights fielen die Blätter, bunt, so bunt, veränderte sich das Wetter, wurde es früher Abend. Sie schaute mit Aaron im LL vorbei, spielte ihm die Musik vor, die sie mochte, erzählte von den Dingen, die ihr im Kopf herumschwirrten. Aaron machte sie mit vielen Künstlern bekannt, all den lustigen Typen mit den komischen Namen und den Projekten, von denen eins irrer und abstrakter war als das andere. Sie mochte Aaron, keine Frage. Sie führten eine gute Beziehung, eine, an der es nicht unbedingt etwas auszusetzen gab. Faye war alt genug, um das Glück zu akzeptieren, wenn es in kleinen Dosen zu ihr kam. Eine Beziehung wie die zu Aaron war besser als keine Beziehung, und das war manchmal schon sehr, sehr viel.
»Du schaust nicht mehr so oft zur Tür«, stellte Mica nach einer Weile fest.
»Du bist immer noch sehr neugierig«, sagte Faye.
»Ich bin ein Shaolin. Ich sehe viel.«
Sie ließ es dabei bewenden.
Der Motorroller kam nicht wieder vorbei. Einmal bekam sie einen Brief, der eine ganze Reihe von Zeichnungen enthielt, ein winziges Daumenkino mit Holly_Go! als Protagonistin. Sie spielte Klavier und strich sich, irgendwann am Ende, eine Strähne aus dem Gesicht. Dann stand sie auf und verbeugte sich, mit dem schönsten Lächeln, das ihr jemals jemand gezeichnet hatte. Die Bewegungen waren abgehackt und seltsam lustig, sehr Vaudeville eben. Das Daumenkino aber war alles, was sie von Alex Hobdon zu Gesicht bekam.
Er sieht mich so, wie ich wirklich bin, dachte sie, und ich sehe mich, weil er mich zuerst so gesehen hat.
Es gab keine Mail, und Faye schrieb ebenfalls keine Mail. Sie hatte nicht vor, Aaron zu hintergehen, und Alex war einfach nicht mehr da.
Manche Geschichten, dachte sie, sind wie Melodien. Und manche Melodien endeten einfach, ohne Grund.
»Ich mag Aaron Lescoe nicht«, sagte Mica einmal.
»Ich bin mit ihm zusammen.«
»Das weiß ich.«
»Und?«
»Ich mag ihn trotzdem nicht.«
»Warum?«
Mica sah sie an und sagte: »Instinkt.«
Das war alles.
Selbstredend erzählte sie Aaron nichts von dem Daumenkino.
Die Sache mit der Zeit aber ließ Faye keine Ruhe. Antworten auf ihre Fragen erhielt sie dennoch nicht, und irgendwann begann sie, sich damit abzufinden, dass es keine Antworten mehr geben würde. Es konnte keine geben. Dana würde recht behalten.
»›Das ist alles Blödsinn‹«, erinnerte sich Faye der Worte ihrer Freundin, »›alles nur dummes Zeug. Er ist ein Lügner.‹« Basta! Sie hatten sich an jenem Abend im XX betrunken, wie Freundinnen sich manchmal betrinken müssen, um die Bande zwischen sich zu festigen. Kurz darauf lernte Dana bei einem Meeting in Tribeca einen neuen George kennen, und von da an verbesserte sich ihre Laune täglich, das alte Spiel eben.
»Das Leben«, hatte Mica ihr einmal gesagt, »liebt es, einen zu überraschen.«
Faye Archer fühlte sich wohl. Mehr und mehr hatte sie das Gefühl, irgendwo angekommen zu sein, endlich daheim zu sein. Es gab genügend Dinge, mit denen sie die Leere, die sich zuweilen in ihr auftat, zu füllen vermochte. Nichts deutete darauf hin, dass ihr Leben, so, wie sie es kannte, enden könnte; nichts ließ sie erahnen, wie ruckartig Dinge eine andere Richtung einschlagen können.
Doch dann kam der Sturm nach Brooklyn Heights, und mit ihm wurde alles anders.
In den Nachrichten wurde er als der »Sturm des Jahrhunderts« angekündigt. Wolken, schwer und schwarz, wurden schon seit einigen Stunden von dem immer stärker werdenden Wind in die Straßen getragen. Der Sturm näherte sich vom Atlantik her. In der Karibik hatte er schwere Verwüstungen angerichtet. North Carolina war seit dem Vortag in den Nachrichtensendungen mit schrecklichen Bildern vertreten. Seine Ausläufer tasteten bereits nach den beiden Flüssen. Draußen auf See war wohl inzwischen die Hölle los. Schiffe steuerten die Häfen an, so schnell es ging. Die Stadt selbst hielt den Atem an. Alles wartete darauf, dass der Hurrikan auch über Brooklyn Heights hereinbrechen
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