Die Zaehmung
bestimmt Oliver Howards Männer.«
»Meine Frauen werden die Wachen auf den Mauern ablenken. Du mußt mir glauben. Es gibt niemanden sonst.«
»Wenn du mich ein zweitesmal verrätst, werde ich . . .«
»Geh!« befahl Jeanne. »Du verlierst nur kostbare Zeit.«
Rogan verließ sie jetzt, lief über den Hof, zog dabei aber immer noch das eine Bein nach, falls ihn jemand beobachtete. Er hatte sich in seinem Dasein noch nie so nackt gefühlt wie jetzt. Sein und Lianas Leben lagen in den Händen einer Verräterin. Und ein Teil seines Wesens war davon überzeugt, daß zwanzig bewaffnete Männer ihn am Nordwestturm erwarteten, wenn er dort anlangte, um ihn zu ermorden. Doch ein anderer Teil seines Wesens wußte auch, daß dies seine einzige Chance war. Er hatte tagelang vergeblich nach Lianas Aufenthalt geforscht und dabei genauso wenig Glück gehabt wie Howards Ritter.
Doch niemand erwartete ihn am Turm. Statt dessen entdeckte er ein Seil, das an der dunklen Mauer herabhing. Er warf seine Augenklappe weg, zog die Watte, mit der er einen Buckel vorgetäuscht hatte, unter dem Kittel heraus und band sein Bein los. Er holte ein Messer unter seinem schmutzigen Hemd hervor, klemmte es zwischen die Zähne und begann an dem Seil hinaufzuklettern.
Wieder erwartete er, Männer am oberen Ende des Seils anzutreffen, die dort auf ihn lauerten; aber niemand befand sich in der Nähe. Leise schwang er sich auf der anderen Seite der Mauer über die Brüstung und ließ sich an dem dort befestigten Seil hinunter.
Sobald er wieder festen Boden unter den Füßen spürte, rannte er geduckt über den mittleren Wallstreifen. Er schien mit der dunklen äußeren Mauer zu verschmelzen, als er ein Lachen hörte. Zwei Wächter gingen an ihm vorbei und bemerkten Rogan nicht, der nur wenige Schritte entfernt zu ihrer Rechten im Schatten der Zinnen am Seil hing.
Rogan mußte noch eine Mauer übersteigen, ehe er den Burggraben erreichte. Er benötigte ein paar kostbare Mi-nuten, ehe er dort das Seil entdeckte und dann mit dem Klettern begann. Auf der Mauerkrone mußte er warten, weil er eine Männerstimme hörte, die von dem Kichern einer Frau begleitet war. Rogan wartete, bis die beiden sich entfernt hatten, und schwang sich dann auf die breite, flache Mauerkrone hinauf.
Das nächste Seil befand sich dann ein Stück weiter nordwärts, und Rogan ließ sich daran rasch zum Graben hinunter. Im Schatten der Mauer, in hohem Schilf versteckt, entdeckte er ein winziges Boot mit zwei Ruderriemen. Er stieg hinein, duckte sich und wartete. Er hielt den Blick immer auf die Mauer über sich gerichtet, beobachtete sie so angestrengt, daß er nur einmal mit den Lidern zuckte.
Es dauerte lange, ehe er die dunklen Schatten von zwei Köpfen auf der Mauerkrone in der Nähe der Stelle entdeckte, wo sich das Seil befand. Er hatte schon jede Hoffnung aufgeben wollen. Diese Howard-Hexe hatte tatsächlich die Seile und das Boot an den von ihr angegebenen Stellen deponiert; aber würde sie nun auch Liana zum verabredeten Ort bringen?
Rogan hielt den Atem an, als er die beiden Köpfe über sich beobachtete. Sie schienen miteinander zu reden. Frauen, dachte er verdrossen. Worte waren für sie alles. Sie redeten, wenn ein Mann mit ihnen schlafen wollte. Sie redeten, wenn ein Mann ihnen ein Geschenk machte — sie wollten von ihm eine Erklärung für das Geschenk! Aber am schlimmsten war es, wenn sie auf einer Mauer standen und redeten, während sie von bewaffneten Männern umgeben waren!
Dann passierte alles zugleich. Die Hände von einer der beiden Frauen fuhren in die Höhe, als wollte sie die andere schlagen. Rogan war bereits aus dem Boot gesprungen und rannte auf die Mauer zu. Da war der Schrei einer
Frau über ihm, dann das Geräusch von Männern, die den Wehrgang herunterliefen. Rogan hatte bereits beide Hände am Seil, bereit, daran hinaufzuklettern, als Jeanne zu ihm hinunterschrie.
»Nein!« rief sie Rogan zu. »Bring dich in Sicherheit. Liana ist tot. Die kannst du nun nicht mehr retten!«
Rogan kletterte jetzt rasch an dem Seil hinauf und war bereits sechs Fuß über dem Boden, als es nachgab und er zurück auf die Erde fiel. Jemand mußte es oben gekappt haben.
»Geh weg, du Narr«, hörte er Jeanne noch schreien; dann ging ihre Stimme in ein ersticktes Murmeln über. Jemand mußte ihr nun mit der Hand den Mund zuhalten.
Rogan überlegte nicht mehr lange, denn Pfeile begannen auf ihn herabzuregnen. Er rannte zum Boot, doch das war von zwei Pfeilen
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