Die Zahl, die aus der Kälte kam: Wenn Mathematik zum Abenteuer wird (German Edition)
sie ist es aussichtslos, den Geheimexponenten zu entlarven.
Wenn der Modul bereits einige Wochen, gar Monate bekannt ist, wird natürlich die Kodierung von Botschaften mit ihm unsicher. Vielleicht hat der Gegner bereits die beiden Primzahlen ermittelt, als deren Produkt dieser Modul entsteht. Darum wechseln die Geheimdienste nach bestimmten Zeiträumen die Module und die Exponenten, die sie für die Kodierungen heranziehen. Dies können sie ohne große Schwierigkeiten. Es gibt schließlich eine unendliche Fülle von Primzahlen, sogar eine regelrechte Überfülle. Die Anzahl der höchstens 400-stelligen Primzahlen allein beträgt mehr als 10 397 , das ist eine Zahl, die mit der Ziffer 1 beginnt und bei der sage und schreibe 397 Nullen angeschlossen werden. 17
Nicht nur Geheimdienste brauchen das RSA-Verfahren.
Tippt man in das Tastenfeld eines Geldausgabeautomaten den Code seiner Kontokarte ein, wird die Nummer dieses Codes über eine öffentliche Telefonleitung an die kontoführende Bank übermittelt. Doch kein Fremder soll diesen Code abhören dürfen. Darum wird er automatisch im Geldausgabeautomaten chiffriert und erst bei der Bank des Kontoinhabers wieder dechiffriert. Das RSA-Verfahren findet bei solch alltäglichen und myriadenfach während eines Tages vollzogenen Handlungen seine Anwendung.
Führt man über Internet eine Bestellung durch und zahlt man mit Kreditkarte, muss die Nummer dieser Karte an die Rechnungsadresse übermittelt werden. Es wäre höchst gefährlich, wenn Fremde diese Übertragung anzapfen und die Daten der Kreditkarte ablesen könnten. Darum sichern sich die Firmen ab, indem sie die Kartennummer sofort nach dem Eintippen chiffrieren und erst bei Eingang an der gewünschten Adresse wieder dechiffrieren. Das RSA-Verfahren schafft so Sicherheit beim elektronischen Handel.
Doch man darf die Augen nicht verschließen: Der eigentliche Sinn und Zweck des RSA-Verfahrens war und ist, den Geheimdiensten ihr verdorbenes Geschäft zu erleichtern: das Verbergen und Täuschen, das Lügen und Betrügen.
Illusion und Wirklichkeit
Dies führt uns wieder zu unserer Geschichte zurück: zu George Smiley jenseits des Eisernen Vorhangs, zum Agenten 007, den Smiley unbedingt treffen möchte, zu Toby Esterhase im Dechiffrierraum und zu Bill Haydon im obersten Stock des Circus. Denn die Geschichte besitzt eine tragische Note: Bill Haydon nämlich ist ein Doppelagent. Vor Jahrzehnten schon wurde er von Karla angeworben, und er erklärte sich bereit, für die Sowjets zu spionieren. Die Brutalität des Kalten Krieges hat alle seine Illusionen, für die „gute Sache“ zu kämpfen, zerstört, das British Empire ist seiner Meinung nach in Auflösung begriffen, die Leute der britischen Intelligence bekommen zusehends die Rolle von Pudeln der Amerikaner zugewiesen. Und diese verachtet Bill Haydon, der arrogante Gentleman, zutiefst. Darum nahm er Ende der 50er Jahre die Rolle eines „Schläfers“ ein, der darauf wartet, dass die Zeit in Karlas Augen reif ist. Reif dafür, die geheimsten Informationen an Karla weiterzuleiten.
Natürlich verschlüsselt.
Noch bevor sich Toby Esterhase an den Schreibtisch des Dechiffrierraumes setzte, war Karla im Besitz des Geheimexponenten 35. Bill Haydon informiert ihn über die kleinsten Vorkommnisse in London Station, wo der Circus sich sicher wähnte. Selbst die Marke der Füllfeder, mit der Toby Esterhase seine lästigen Rechnungen schrieb, ist Karla bekannt.
Der ganze knifflige Aufwand: Die Erstellung des Moduls 221 und des Exponenten 11 sowie die Berechnung des Geheimmoduls 192 und des Geheimexponenten 35 durch die Eierköpfe des Circus, das Chiffrieren von 7 zur codierten Zahl 184, das George Smiley in einem schäbigen tschechischen Hotelzimmer Stunden einer schlaflosen Nacht kostete, das Dechiffrieren von 184 zurück zu 7, dem sich Toby Esterhase gewissenhaft und mit zweimaligem Nachrechnen widmete, die Bewachung des Tresors, in dem der wertvolle Geheimexponent 35 verschlossen lag, dieser ganze kräftezehrende Aufwand war umsonst. Der gerissene und skrupellose Bill Haydon entwertete all diese zeitraubende Mühe.
Agent 007 war schon so gut wie tot, bevor er noch auf die Reise in den Osten geschickt wurde.
Wir geben unserer glattweg erfundenen Geschichte nicht umsonst diesen kläglichen Schluss. Denn wenn der uns namentlich unbekannte Schüler des Pythagoras, der den Begriff der Primzahl erfand, gewusst hätte, dass seine faszinierende Suche nach den Geheimnissen der
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