Die Zahl, die aus der Kälte kam: Wenn Mathematik zum Abenteuer wird (German Edition)
„Was geschieht, wenn der Drache mit seinem Maul die Sonne verschlingt, wenn sein Schwanz die Sonne erdrückt?“
„Die Sonne verschwindet, Finsternis bedroht uns“, antworteten die Priester.
„Und wann wird dies geschehen?“
„Wir müssen die Götter befragen, vielleicht geben sie uns die Antwort. Und wenn Ihr ihnen ein gefälliges Opfer darbietet, werden die Götter den Drachen bezwingen, so dass er die Sonne wieder freilässt und sie weiter auf uns scheinen kann.“
Abb. 1: Von der Erde aus gesehen scheint die Sonne während des Jahres eine durch die Tierkreiszeichen führende Bahn entlang der Himmelskugel zu ziehen, welche die Ekliptik heißt. Die scheinbare Mondbahn entlang der Himmelskugel ist zur Ekliptik ungefähr 5 Grad geneigt und wird vom Mond in einem (siderischen) Monat durchlaufen. Die Schnittpunkte der scheinbaren Mondbahn mit der Ekliptik heißen die Mondknoten Drachenkopf und Drachenschwanz. Nur wenn Sonne und Mond auf der Geraden vom Drachenschwanz zum Drachenkopf liegen, ereignen sich Finsternisse: Sind dabei Sonne und Mond auf gegenüberliegenden Seiten der Erde, erlebt man eine Mondfinsternis. Sind hingegen Sonne und Mond vor der Erde auf dem Sehstrahl des Beobachters zum Mondknoten, erlebt der Beobachter eine Sonnenfinsternis.
Aber statt die Götter zu befragen, beobachteten die Gelehrten mit ihren Visiergeräten haargenau den Mond: Präzise maßen sie die Zeitspannen, die der Mond auf seiner Himmelsbahn benötigt, um vom Drachenkopf zum Drachenschwanz und vom Drachenschwanz wieder zurück zum Drachenkopf zu gelangen. Ein voller Durchlauf ist ein klein wenig kürzer als der siderische Monat. Lange Listen dieser Zeitspannen dürften die Gelehrten angelegt haben. Denn sie verrieten ihnen, was sie dem Volk als Botschaft der Götter verkündeten: Nur wenn sich der Mond in einem der beiden Knotenpunkte befindet, kann sich eine Finsternis ereignen. Doch zugleich muss entweder Vollmond oder aber Neumond herrschen. Dafür ist die Zeitspanne von einem Vollmond zum nächsten maßgeblich, der den Astronomen Babylons wohlbekannte synodische Monat. Mit diesem Wissen konnten die Gelehrten Babylons Sonnenfinsternisse vorausberechnen: Sie finden nur dann statt, wenn sich der Neumond im Drachenkopf oder im Drachenschwanz befindet. Sie können zuweilen sehr lange auf sich warten lassen. Von einer totalen oder ringförmigen Sonnenfinsternis bis zur nächsten über einem bestimmten Ort der Erde muss man im Schnitt 140 Jahre ausharren. So selten dieses Ereignis ist, so faszinierend ist es – und für Menschen, die es sich nicht erklären können, erschreckend.
Am 4. Juli 587 v. Chr. herrschte Vollmond, und zusammen mit vielen anderen beobachtete der griechische Philosoph Thales von Milet in dieser Nacht eine Mondfinsternis. Irgendwie ist es Thales gelungen, den babylonischen Gelehrten das Zahlengeheimnis des Drachen Tiamat zu entlocken: 23 Monate und einen halben Monat später, so verrieten sie ihm, werde der Neumond, nachdem er bereits fünfundzwanzig Mal durch den Drachenkopf und fünfundzwanzig Mal durch den Drachenschwanz gelaufen sein wird, sich zusammen mit der Sonne im gegenüberliegenden Mondknoten befinden und dort eine Sonnenfinsternis hervorrufen. Jetzt brauchte Thales nur mehr zu rechnen: 23 ½synodische Monate sind 693 Tage, um 37 Tage weniger als zwei Jahre. Folglich wird die Sonnenfinsternis 37 Tage vor dem 4. Juli 585 v. Chr., also 33 Tage vor dem 30. Juni 585 v. Chr., folglich am 28. Mai 585 v. Chr. stattfinden.
Man stelle sich vor: Ein babylonischer Priester spricht zu seinem Volk und sagt:
„Morgen wird der Drache Tiamat die hell leuchtende Sonne mit seinem Maul verschlingen. Schwärze wird sie umhüllen, der Himmel sich verfinstern, Dämmerung einbrechen, Düsternis herrschen. Aber wir haben zu den Göttern gebetet. Die Götter werden dem Drachen gebieten, die Sonne wieder freizulassen. Preist die Götter und bringt in den Tempeln Eure Opfer dar!“
Am nächsten Tag geht kein Bürger Babylons in Ruhe seiner Arbeit nach, alle starren gebannt in den Himmel. Und wirklich: Die Sonne verfinstert sich, wie es der Priester verkündete, und nach Minuten der Düsternis tritt sie wieder aus dem unheimlichen Schatten hervor. Für sein weiteres Dasein und das Dasein seiner Kinder und Kindeskinder hat der Priester mit der Erfüllung seiner Prophezeiung ausgesorgt. Keiner der Babylonier würde es wagen, an seiner Autorität zu zweifeln.
In Wahrheit steckt hinter seiner
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