Die Zahl
Schriftsteller werden? Die Welt sehen und darüber schreiben? Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie du mir vorgeschwärmt hast. Und jetzt? Wo sind sie, deine Visionen und Träume? Das Einzige, was du schreibst, sind die Benotungen deiner Studenten und deine Steuererklärung. Ich bin so enttäuscht, Leander. Gerade von dir hätte ich mehr erwartet. Ich habe immer gehofft, dass du dich von der Gesellschaft nicht unterkriegen lässt. Ich habe nicht geglaubt, dass aus dir einmal so ein schrecklicher Spießer werden würde. Du hast mich damals verlassen, weil ich keine Ziele und keine Träume hatte. Langweilig hast du mich genannt, leer, antriebs- und orientierungslos. Du hast behauptet, ich hätte kein Feuer in mir und ich könne daher auch für nichts brennen. Ständig hast du mir andere Menschen vorgeführt. Sieh dir nur Susanne an, sie wird einmal eine tolle Pilotin, und Maria wird einmal die Welt umsegeln, bla, bla, bla.« Sie lachte kurz auf. »Aber ich habe jetzt ein Ziel, eine Mission, einen Traum – und du? Du bist eine leere Hülle, ein ausgebrannter Dozent, der sich jeden Tag für eine Arbeit aufreibt, die ihn nicht erfüllt. Und wofür?« Sie seufzte. »In einem berühmten Roman von Paulo Coelho erzählt ein weiser Mann etwas sehr Kluges: Träume, die nicht ausgelebt, sondern weggeschoben und vergessen werden, sterben. Sie verwesen und vergiften dein Gemüt. Sie machen dich krank, verpesten deine Seele, lassen sie dahinsiechen, bis sie langsam und schleichend verdirbt und letztendlich stirbt.«
»Aber das ist doch nur ein Buch. Ein Roman. Reine Fiktion«, versuchte Lorentz Iris zur Vernunft zu bringen.
»Nein!«, schrie sie. »Es ist die Wahrheit.« Sie verschwand kurz
aus seinem Blickfeld, und als sie wieder zurückkam, wedelte sie mit einem Buch über ihrem Kopf herum. »Hier«, rief sie und hielt Lorentz das Buch vor die Augen, damit er den Titel erkennen konnte.
»›Klingsors letzter Sommer‹«, las er keuchend vor.
»Genau, Hermann Hesse. War das nicht einmal dein Idol? Ich weiß noch, wie sehr du seine Bücher geliebt hast. Und ich wette, dass du sie auch heute noch gut findest, nicht wahr?« Sie packte Lorentz’ Haare und bewegte seinen Kopf auf und ab, so als würde er nicken. »Gut, dann lese ich dir jetzt mal ein paar Stellen aus seinem Buch hier vor.« Sie räusperte sich. »›Sie leben meist im Dunkeln und an sich selber vorbei, irgendeinem Zweck, einer Pflicht, einer Absicht nach. Das tun fast alle Menschen, daran ist die ganze Welt krank, daran wird sie auch untergehen.‹« Iris hielt inne, legte das Buch in ihren Schoß und sah Lorentz an. »Du hättest seine Bücher nicht nur lesen sollen«, sagte sie, »sondern auch versuchen sollen zu verstehen, was wirklich drinnensteht.«
»Du bist tatsächlich irre! Du willst doch wohl nicht im Ernst behaupten, dass Coelho und Hesse dir eingeredet haben, diese schrecklichen Dinge zu tun.«
Iris lachte. »Sie haben es mir nicht eingeredet, aber sie und einige andere Autoren haben mir die Augen geöffnet. Was in den Büchern steht, ist die Wahrheit. Ich habe das bei Joe die ganzen Jahre über mit verfolgen müssen. Aus falschem Pflichtgefühl heraus ist er hier in Landau geblieben und hat das Autohaus seines Vaters übernommen. Er hat das getan, was unsere Gesellschaft von einem guten Sohn erwartet. Joe war immer schon anders als du, Leander. Für ihn war es immer wichtig, was andere über ihn denken. Dafür hat er seinen Traum sterben lassen. Er wäre so gerne mit dir nach Wien gezogen, um dort das Leben zu genießen und Architektur zu studieren. Stattdessen hat er sich in einen Anzug gezwängt und Autos verkauft. Ich habe den Verfall seiner Seele mit ansehen müssen. Er war so unglücklich, so unzufrieden. Tag für Tag, Monat für Monat, Jahr für Jahr hat er sich als Autohändler
verkleidet und in einem Ort, den er nicht mochte, Menschen, die ihm egal waren, Autos, die ihn nicht interessierten, verkauft. Sein Leben hat ihm so viel Kraft abverlangt. Er hat den Menschen, der ihm jeden Tag aus dem Spiegel entgegensah, gehasst. Er hat sich verabscheut, sich verachtet für das, was er sich selbst angetan hatte. Sein Leben war so sinnlos. Er hatte keine Freude mehr. An nichts. Weißt du, wie es ist, mit so jemandem verheiratet zu sein? Kannst du dir vorstellen, jeden Tag in dieses graue Gesicht mit den Zornesfalten sehen zu müssen? Alles war ihm zuwider. Ich, unsere Ehe, unsere Freunde, das Haus und am allermeisten er selbst. Als er starb,
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