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Die Zahlen Der Toten

Die Zahlen Der Toten

Titel: Die Zahlen Der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linda Castillo
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versuchte zu treten, ihre Beine freizubekommen, ein letztes verzweifeltes Aufbäumen gegen den drohenden Tod.
    Doch es war zu spät.
    Sie schrie so lange, bis ihr die Luft ausging. Sie zappelte und wand sich, aber vergebens. Eisen scharrte über Eisen, als ihre Füße langsam von der Kette hochgehoben wurden. »Warum machen Sie das?«, schrie sie.
»Warum?«
    Die Kette zog knarrend ihre Füße nach oben, höher und höher, bis sie mit dem Kopf nach unten über dem Boden hing. »Hilfe! Helft mir doch! Irgendwer!«
    Panik ergriff sie, als die Handschuhhand ihre Haare packte und den Kopf nach hinten zog. Ein Schrei entwich ihren Lungen. Der Schnitt des Messers, die plötzliche Hitze an ihrer Kehle. Wie aus weiter Ferne drang Wasserrauschen an ihr Ohr, als würde es von den Kacheln einer Dusche widerhallen. Sie starrte in die dunkle Augenbinde und spürte das Blut aus sich herausströmen. Das bildete sie sich bestimmt ein, so was konnte gar nicht passieren. Nicht hier. Nicht in Painters Mill.
    Und dann, als hätte jemand einen Schalter umgelegt, schwanden ihr die Sinne. Ihr Gesicht wurde heiß und ihr Körper kalt. Die Panik verebbte. Der Schmerz verpuffte im Nichts. Ihre Muskeln erschlafften und ihre Glieder wurden taub.
    Er tut mir also doch nicht weh,
dachte sie.
    Und sie entfloh zu dem weißen Sandstrand, wo schlanke Palmen sich wie graziöse Flamencotänzer im Wind wiegten. Noch nie hatte sie so blaues Wasser gesehen, so weit das Auge reichte.

1. Kapitel
    Das Blaulicht auf dem Dach des Streifenwagens flackerte über die kahlen Winterbäume. Officer T. J. Banks hielt auf dem Seitenstreifen. Er schaltete den Suchscheinwerfer ein und leuchtete den Rand des Feldes ab, wo Getreidehalme in der Kälte zitterten. Etwa zwanzig Meter entfernt standen sechs Jersey-Rinder im Wassergraben und käuten in aller Ruhe wieder.
    »Blöde Viecher«, murmelte er. Genau wie Hühner gehörten Rinder bestimmt mit zu den dümmsten Tieren der Welt.
    Er aktivierte das Funksprechgerät. »Zentrale, siebenundvierzig hier.«
    »Was gibt’s, T. J.?«, fragte Mona, die nachts in der Telefonzentrale arbeitete.
    »Ich hab hier ’nen 10 – 54 . Stutz’ verdammte Kühe sind wieder mal ausgebrochen.«
    »Das ist das zweite Mal in einer Woche.«
    »Und immer in meiner Schicht.«
    »Was willst du machen? Er hat kein Telefon.«
    Der Blick auf die Uhr im Armaturenbrett verriet ihm, dass es fast zwei war. »Also, ich bleib bestimmt nicht hier draußen in der Scheißkälte und passe auf die dämlichen Viecher auf.«
    »Vielleicht solltest du sie einfach erschießen.«
    »Bring mich nicht in Versuchung.« Er blickte sich um und seufzte. Um diese Uhrzeit stellten Tiere auf der Straße ein großes Unfallrisiko dar. Es brauchte nur einer zu schnell um die Kurve kommen und schon war’s passiert. Er dachte an den ganzen Papierkram, den ein Unfall nach sich zog, und schüttelte den Kopf. »Ich stell ein paar Warnleuchten auf, fahr zu Stutz und hol seinen amischen Arsch aus dem Bett.«
    »Melde dich, wenn du Hilfe brauchst.« Sie kicherte.
    Er zerrte den Reißverschluss seiner Jacke bis hoch zum Kinn, nahm die Taschenlampe aus der Vertiefung neben dem Sitz und verließ den Streifenwagen. Es war so kalt, dass ihm die Nasenhaare gefroren. Beim Gehen knirschten seine Stiefel im Schnee und sein Atem formte weiße Wölkchen in der Luft. Die Nachtschicht war ihm fast so verhasst wie der Winter.
    Er leuchtete mit der Taschenlampe den Zaun ab und fand in zirka sechs Metern Entfernung tatsächlich eine Stelle, wo der Stacheldraht lose am knorrigen Pfahl hing. Zahlreiche Hufabdrücke belegten, dass auch die Kühe die Öffnung entdeckt hatten.
    »Verdammte Mistviecher.«
    T. J. ging zum Streifenwagen zurück, holte zwei Warnleuchten aus dem Kofferraum und platzierte sie auf dem Mittelstreifen, um die Autofahrer zu warnen. Gerade wollte er umkehren, da bemerkte er auf der Standspur der gegenüberliegenden Straßenseite etwas im Schnee. Neugierig ging er hin. Ein einzelner Frauenschuh, der in Anbetracht des guten Zustands und der fehlenden Schneeschicht darauf noch nicht lange dort liegen konnte. Wahrscheinlich Teenager. Der einsame Straßenabschnitt war beliebt, um ungestört Haschisch zu rauchen und Sex zu haben. Die Kids waren fast so dumm wie die Kühe.
    Missbilligend runzelte er die Stirn, stieß mit dem Fuß an den Schuh. Erst da bemerkte er die Schleifspur. Anscheinend war hier etwas durch den Schnee gezogen worden. Mit dem Schein der Taschenlampe folgte er der

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