Irrfahrt durch die Düsterzone
1.
» Herrscht die Finsternis – dann erwarte das Licht.
Blendet Schönheit deine Augen – dann erschrickst du bald über das Gräßliche.
Will ein Freund dir den Weg weisen – glaube ihm nicht; der Wegführt dich ins Verderben.
Alles ist Lüge. Nichts ist richtig. Glaube nichts, vertraue niemandem.
Sonst ist dein Leben kurz. Hier, in der Düsterzone, lügen selbst die Sprichworte. «
Lebensregeln der Düsterleute
*
Necron, der Alleshändler, fuhr mit seinem Schrein durch eine Landschaft aus tausend gefährlichen Zufälligkeiten. Er wollte sich mit Miesel, dem Fledderer, weit vor dem Treibenden Land treffen.
»Schneller, meine Grauen!« rief er vom Kutschbock. »Und scheut nicht vor den Flammenbäumen!«
Dumpfes Wiehern antwortete ihm. Obwohl die Pferde viele Schrecknisse der Düsterzone kannten und längst nicht mehr fürchteten, brauchten sie nicht nur die Zügel, die Peitsche und das Futter, sondern auch den Klang seiner Stimme. Gerade jetzt, als aus dem grauen, mit Gelb gestreiften Nebel die fadenartigen Stämme, Äste und Ästchenverzweigungen der Bäume auftauchten, sprach er mit den sechs Tieren. Sie zogen zuverlässig und in einem langsamen Trab den Wagen durch das Gelände. Jetzt rollte der Schrein auf den Rädern mit den breiten, geriffelten Felgen, aber später würde Necron die Kufen brauchen.
Der Alleshändler war in Eile. Aber wenn er in halsbrecherischem Galopp durch das Gebiet raste, würde er noch langsamer zum Ziel kommen. Also war Eile sinnlos. Bedächtigkeit zeichnete jeden Bewohner und Besucher aus, der in der Düsterzone der Nordwelt Gorgan überleben konnte. Necron verachtete die Welt jenseits der Düsterzone.
In der Normalen Welt – diese Bezeichnung galt bei den Düsterleuten fast als Beschimpfung – fühlte er sich wohl. Hier wurde er nicht nur stündlich herausgefordert. Hier brauchte er seine Augen und seinen Verstand, die Waffen nicht seltener als seine Fähigkeit, Blendwerk und Trug zu durchschauen und mit seinem Wagen voller kostbarer Handelsware sein Ziel heil zu erreichen.
Als Berater eines Herrschers in der Normalen Welt würde er es zu gewaltigen Ehren gebracht haben. Aber er wollte die Düsterzone nicht verlassen. Der kaum erkennbare Weg wand sich zwischen den ersten Stämmen der Flammenbäume hindurch. Der Wegweiser des Irrsinns hatte in eine andere Richtung gedeutet, aber Necron fiel nicht darauf herein. Er kannte die Route durch den Nebel. Aus den Wurzeln der dünnen Bäume züngelten dünne Blitze und zielten nach den Hufen der Pferde. Sie zuckten und schlugen winzige Löcher in die dahinwirbelnden Speichen der Räder. Feuerschein lief in ringförmigen Wellen die Stämme aufwärts und erlosch an den Gabelungen der Äste. Zwischen den lodernden Bäumen verdichtete sich der Nebel…
*
Necron lachte kurz und ließ übermütig die Peitsche mit den beiden Schnüren knallen. Ein Knall ertönte über den Köpfen der zwei Laufpferde, der andere weit hinter dem Schrein. Schon seit einer Stunde hatte sich nichts verändert, war keine Illusion über ihn gekommen und hatte versucht, seine Sinne zu verwirren.
»Gorgan ist ein Alptraum«, sang Necron vor sich hin und spitzte seine Lippen. Sein fröhliches Pfeifen schien die Pferde zu beruhigen. Sie stellten ihre Ohren auf und hoben die Köpfe, als ob ein Stall in der Nähe wäre.
Im Land der Bizarren und Abstrusen war alles möglich.
Das Unerwartete stellte die Regel dar. Am Tag herrschte diffuses Licht. Aber auch plötzliche Dunkelheiten traten auf. Ebenso oft oder ebenso selten erschienen grelle Helligkeiten, aber niemals sah man die Sonne. Ununterbrochen änderten sich Licht und Formen, veränderten sich Aussehen und Bedeutung aller Dinge. Nur wenige Menschen vermochten sich in diesem Wirbel zurechtzufinden. Einer von ihnen war Necron. Er war einer der besten Männer der Düsterzone. Ein hervorragender Händler, der wegen seiner Ware niemals Schwierigkeiten hatte. Tatsächlich handelte er mit allem, was man sich denken konnte. Seine Kenntnis der Magie war beträchtlich, auch wenn es bessere Magier im Land östlich von Prinz Odams Reich gab. Aber nicht einmal die Feuerbäume konnten ihn schrecken.
Feuerbäume spürten nämlich mit den winzigen Knoten in den Endstücken der feinen Ästchen, ob sich ein Lebewesen vor ihnen fürchtete. Dann erst, wenn sie sicher waren, töteten sie ihn mit den knisternden Blitzen. Bodenmaden, weiß und von Schleim bedeckt, fraßen den Körper langsam
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