Die Zarin (German Edition)
Manchmal ist er so heftig, daß sie nicht mehr laufen noch atmen kann.
Nach meinem Souper. Der Mai bringt die ersten lauen, langen Nächte nach Sankt Petersburg, deren Dunkelheit schon milchig ist. Nun, am Ende des Monats ist es zu so später Stunde noch hell. Dieser Zauber hört nie auf, mich zu verwirren. Um mich ist die Stadt noch lebendig: Die Paläste, die Kirchen, die kabaki und die lebensfrohen Einwohner erscheinen mir unwirklich. Ich weiß doch, wie es hier vor zwanzig Jahren ausgesehen hat! Wenn ich an meinen Umzug von Moskau an die Newa denke: Ciel! Quel horreur! Nun gehen im Palast die Lichter an. Ich brauche neues Siegelwachs für meinen Bericht nach Paris, wenn die Zarin heute nacht stirbt. Dann werden wir wieder einen Zar Peter haben, den kleinen Sohn des armen Alexej. Ich suchte in meinen Laden danach und fand ein Flugblatt, das ich vorher nicht gesehen hatte. Wie kommt es auf meinen Schreibtisch? Ich hefte es hier bei:
»Man könnte für immer und ewig die Verdienste des toten Zaren Peter loben. Und doch wäre es uns unmöglich, die Größe, die Einmaligkeit, die Weisheit seiner Entscheidungen zu beschreiben.
Aber in seinem Schaffen zerstörte er. Er fügte allen Menschen, die je mit ihm in Berührung kamen, Schmerz zu. Er störte den Frieden, den Wohlstand, die Stärke seines Reiches. Er verletzte willentlich die Würde, die Rechte und das Wohlergehen seiner Untertanen. Er mischte sich beleidigend in alle Angelegenheiten: Von der Religion über die Familie bis hin zur heiligen Kirche. Kann man einen solchen Herrscher lieben? Nein, nie. Ein solcher Herrscher ist nichts als verhaßt.«
Nun klopft es an die Tür. Es wird ein Bote des Zarenhofes sein: Eine Zarin stirbt nicht als Frau, sondern als Herrscherin. Auch wenn sie immer mehr Frau als Herrscherin war.
Mir ist noch nie der zarte blaue Streifen aufgefallen, der sich mit dem Licht der Nacht über das Wasser der Newa legt. Die Irrlichter tanzen für sie alleine.
Meine Pflicht ruft mich, aber ehe ich gehe, lese ich noch einmal das Flugblatt durch.
Kann man einen solchen Herrscher lieben? Nein. Aber einen Menschen auf dem Zarenthron? Ja.
Die Zarin hat ihre Wahl getroffen.
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