Die Zauberer 01 - Die Zauberer
Tirgas Lans betreten, zum anderen war erstmals Blut vergossen worden innerhalb der Weißen Mauern - und Alannah trug die Schuld daran.
Der Lordrichter hatte ihr klargemacht, dass sie sich für ihr Vergehen würde verantworten müssen. Es stand zu viel auf dem Spiel, denn der Friede zwischen Elfen und Menschen war in Gefahr. Dass der Jüngling, dessen Namen Alannah noch nicht einmal kannte, seinerseits einen Frevel begangen und in eine geheiligte Stätte des Elfenvolks eingedrungen war, schien niemanden mehr zu kümmern. Man wollte die angebliche Mörderin bestraft sehen - und Alannah wurde das dumpfe Gefühl nicht los, dass es dafür auch noch andere Gründe gab.
Ihr Volk weilte schon so lange in Erdwelt, dass es sich als einen Teil davon betrachtete, anders als die Menschen oder die Zwerge, die man in der Elfensprache nur als gystai bezeichnete, als geduldete Gäste. In dieser langen Zeitspanne hatten die Elfen gelernt, niederer Gewalt zu entsagen, und es gab nicht wenige, die behaupteten, Glyndyrs Volk stünde kurz davor, auf eine andere, höhere Bewusstseinsebene zu wechseln, um im Einswerden mit der Natur seine höchste Erfüllung zu finden. Lyrik, Musik und alles Schöngeistige dienten dazu, die Seele zu erheben und die Elfen auf eine höhere Form des Seins vorzubereiten, wohingegen jede Art von Gewalt, sei sie körperlicher oder seelischer Natur, einen Rückschritt bedeutete und daher verpönt und geächtet war. Manche vertraten gar die ehrgeizige Auffassung, dass die Elfen - im Gegensatz zu Menschen und Zwergen - zu solch niederen Taten überhaupt schon nicht mehr fähig wären.
Alannah jedoch hatte das Gegenteil bewiesen. Der Zwischenfall in den Ehrwürdigen Gärten hatte gezeigt, dass auch eine Tochter des
Elfengeschlechts in der Lage war, ein wehrloses Geschöpf zu töten, und er strafte jene Lügen, die behauptet hatten, die Vollendung des Elfenstammes stünde bereits unmittelbar bevor.
Dies, nahm Alannah an, war der eigentliche Grund dafür, dass ihre Verurteilung und Bestrafung bereits beschlossen waren. Man wollte sich von ihr abgrenzen, wollte die ruchlose Mörderin möglichst rasch loswerden und sich und aller Welt beweisen, dass sie nur eine Ausnahme darstellte und alle übrigen Söhne und Töchter Sigwyns anders waren als sie. Die Frage war nicht, ob man Alannah verurteilen würde, sondern nur noch, wie die Bestrafung ausfallen würde.
Der Gang zum Henker - ein Berufsstand, der sich in den Menschenstädten einer außergewöhnlich guten Auftragslage erfreute - verbot sich selbstredend. Wahrscheinlich, so nahm Alannah an, würde sie verbannt werden, ausgeschlossen aus den Ehrwürdigen Gärten und vertrieben aus Tirgas Lan. Unter den Menschen jedoch würde sie vogelfrei sein, und vermutlich würde es nicht lange dauern, bis irgendein grobschlächtiger Barbar, dessen rohen Körperkräften sie nichts entgegenzusetzen hatte, über sie herfallen würde und ...
Alannah fuhr aus ihren Gedanken auf, als erneut die Zellentür geöffnet wurde. Quietschend schwang sie auf, aber wider Erwarten war es nicht der strenge Lordrichter, der auf der Schwelle stand, sondern - zu Alannahs Überraschung
- eine Frau.
Sie war groß und schlank und trug eine lange purpurfarbene Robe, die ihr bis zu den Knöcheln reichte. In der Hand hielt sie einen langen Stab, dessen oberes Ende oval geformt war und eine Öffnung bildete, in die ein kleiner Kristall eingesetzt war. Das blaue Leuchten, das von ihm ausging, erhellte die Kerkerzelle. Während sich Alannahs Augen noch den veränderten Lichtverhältnissen anpassten, schlug die Besucherin die Kapuze zurück, sodass ihr Gesicht, dessen obere Hälfte zunächst bedeckt gewesen war, gänzlich sichtbar wurde.
Alannah hielt den Atem an.
Denn noch nie zuvor in ihrem Leben, nicht einmal unter den Kindern der Ehrwürdigen Gärten, war sie solcher Schönheit begegnet.
Der Teint der Fremden war dunkler als bei den meisten Elfinnen, die Haut aber glatt und makellos. Volle Lippen formten einen sinnlichen Mund, die Nase war schmal und gerade, und das Gesicht mit den hohen Wangenknochen war insgesamt so ebenmäßig, dass man es als dyrjraida bezeichnen musste, als in jeder Hinsicht vollkommen. Zusammen mit den schmalen, strahlend blauen Augen, deren Blick fast hypnotisch war, bildeten sie jenen Ausdruck perfekter Harmonie, nach dem Künstler oft vergeblich suchten. Das gelockte Haar der Fremden, das offen auf ihre Schultern fiel, war pechschwarz. »Bist du überrascht?«, fragte die
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