Die Zehnte Gabe: Roman
Dampfwolken quollen.
Hier blieb Jane Tregenna stehen. »Wollen sie uns etwa bei lebendigem Leib in den Kochtopf werfen?«
» Imshi - bewegt euch, rein da!« Im Vergleich zu der älteren Frau war die patrona riesig. Plötzlich fiel Cat das ausgezehrte Gesicht ihrer Mutter auf. Bislang hatte sie versucht, den Rest ihres nackten Körpers zu ignorieren, doch ein einziger Blick hatte genügt, um ihr die messerscharfen Schlüsselbeine, die herausstehenden Rippen des Brustkastens, den eingefallenen Bauch und die zerbrechlichen Knochen vor Augen zu führen. Ihre Mutter hatte immer eine gute Figur gemacht mit ihren schleppenden Reifröcken und den hübschen Kurven, die von ihrem eng geschnürten Korsett herrührten, doch jetzt wirkte
sie alt und verbraucht, eine Frau, die mit einem Fuß bereits im Grab stand. Von ihnen allen war Cat vermutlich die Einzige, die die grausame Reise nicht hatte brechen können, denn sie hatte gegessen, als die anderen Hunger litten, hatte auf frischem Leinen geschlafen, als die anderen in ihren eigenen Exkrementen standen, und ihr Fleisch war noch straff und fest. Kein Wunder, dass alle dachten, ihre eigenen Landsleute ebenso wie die Araberinnen, dass sie die Hure des Piratenanführers war.
Gegen die patrona kam man nicht an - es hatte keinen Sinn, und einen Fluchtweg gab es nicht. Eine nach der anderen schlurften sie in das dampfende Halbdunkel. Dort wurden sie von vier jungen Mädchen mit engen weißen Gewändern und Kopfbedeckungen empfangen, die sie mit Wasser und Lappen bearbeiteten, bis ihre Haut wund war. Hätte sie die Möglichkeit gehabt, hätte Cat sie noch überboten und sich die Haut blutig gerubbelt, doch selbst das wäre nicht genug gewesen.
»Niemals werde ich eure widerwärtige türkische Tracht tragen!« Nell Chigwine, die ihr graues Haar zu Rattenschwänzen geflochten hatte, und deren weiße Haut mit unansehnlichen roten Flecken übersät war, verschränkte die Arme vor der Brust und warf der patrona einen herausfordernden Blick zu. »Entweder bekomme ich anständige christliche Kleidung oder gar nichts.«
Die anderen starrten sie an, einige mit zögernder Bewunderung, andere voller Angst, als müssten sie nun mit einer kollektiven Bestrafung rechnen.
Die patrona hatte das alles schon gehört, in einem Dutzend verschiedener Sprachen. Gefangene aus Spanien, von den Kanarischen Inseln, aus Malta, Frankreich und Portugal waren durch ihre Hände gegangen. Sie hatte alle genauso behandelt wie die Unglücklichen, die Stammesfehden oder regionalen Kriegen zum Opfer gefallen waren - gefangene Berber aus dem bled oder aus den Bergen, schwarzhäutige Frauen, die mit Kamelkarawanen aus den heißen Ländern im Süden kamen. Ihre Gemeinde
lebte von dem Geld, das sie mit der Versteigerung dieser Gefangenen verdiente. Es finanzierte nicht nur den heiligen Krieg, den Korsaren wie ihr Herr führten - von manchen der Djinn und von anderen der Andalusier genannt -, sondern auch die Renovierung der Kasbah, ihrer Häuser und Souks, die Ausbildung ihrer Kinder in der vornehmen medersa und den Erhalt ihrer Schreine. Es zahlte die Almosen für die Armen, Witwen und Verkrüppelten. Es hielt sie alle in der Hand Allahs am Leben. Es war eine heilige Pflicht, der sie sich mit Haut und Haar verschrieben hatte.
All das zeigte sich an ihrem Ton und vermutlich auch an ihren Worten, als sie Nell Chigwine beschimpfte. Doch in deren zähen alten Knochen breitete sich ebenfalls rechtschaffener Zorn aus, und so schubste sie die patrona gegen einen Türpfosten. Diese hatte gut gegessen, nicht nur heute, als sie frisches Brot mit Honig aus Mekka, Eier, Tomaten und Zwiebeln mit Kreuzkümmel gefrühstückt hatte, sondern ihr ganzes Leben lang. Sie hatte gut gegessen, sie hatte Wäsche gewaschen und Körbe, Töpfe und Kinder geschleppt, bis ihre Oberarme so muskulös waren wie die eines Mannes. Als sie Nell Chigwine zurückstieß, glitten die Füße der älteren Frau auf den nassen Fliesen aus, und sie stürzte zu Boden, obwohl sie mit beiden Armen versuchte, das Gleichgewicht zu halten. Ihr Kopf schlug gegen die feinen zellije -Kacheln an der Wand und fügte dem sternenförmigen Mosaik eine fünfte Farbe hinzu, ein ungewolltes Dunkelrot zwischen all dem Blau und Weiß, und dann lag sie auf dem Boden, reglos wie ein Stein.
Von der Auktionsplattform aus starrte Cat am selben Nachmittag auf die Menschenmenge, die sich im Souk el-Ghezel versammelt hatte. Auf dem Marktplatz wimmelte es von Kauflustigen und
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