Die Zehnte Gabe: Roman
auf ihrer Haut. Die Marokkanerinnen stießen sie hin und her, unterhielten sich in ihrer fremdartigen Sprache, befühlten die Muskeln in ihren Armen, untersuchten ihre Hände, ihre Füße und das Gebiss. Von Zeit zu Zeit zog die Schreiberin ein großes Buch auf dem Tisch zu Rate und rief eine Frage, die von der patrona in holpriges Englisch übersetzt wurde. Wenn Alice den starken Akzent und die ungewohnte Ausdrucksweise nicht verstand, wurde sie wieder geschlagen, diesmal auf die Oberschenkel.
Als sie an ihrem Unterhemd zerrten, begann Alice zu weinen. »Nein«, flehte sie. »Nein, nein!« Doch aller Widerstand war zwecklos. Das Hemd wurde ihr vom Leib gerissen, bis sie blass und nackt vor ihnen stand. Verzweifelt versuchte sie, mit den Händen ihre Blöße zu bedecken, und fiel dabei immer mehr zusammen, als wollte sie verschwinden. Die Gefangenen starrten zu Boden und empfanden Alice’ Scham ebenso brennend, als wäre es ihre eigene. Außerdem wussten sie, dass ihnen allen das gleiche erniedrigende Ritual bevorstand. Cat tastete nach dem kleinen Beutel, in dem sie ihr Buch und den Stift aufbewahrte, und presste ihn unter ihrem Gewand an sich. Wenn man sie auszog, würde sie ihn garantiert verlieren.
» Murtafa-at «, erklärte die schlanke Frau und schlug Alice die Hände von der Brust, während die patrona eifrig nickte. Die Schreiberin saß am Tisch und kritzelte etwas in ihre Unterlagen.
Am Ende waren sie mit Alice fertig. Daraufhin packte die patrona Maria Kellynch. Als sie sah, wie ihre Mutter nach vorn trat, strampelte sich Chicken von Matty los, rannte quer durch den Raum zu ihr und klammerte sich an Marias Bein wie eine Klette. »Loslassen!«, rief die patrona und versuchte, Chicken wegzustoßen, doch das kleine Mädchen heulte nur noch lauter und klammerte sich noch heftiger fest. Am Ende griff die amina ein. Obwohl sie gerade erst jemanden mit einer Peitsche geschlagen
hatte, fuhr sie der Kleinen jetzt mit erstaunlicher Sanftheit übers Haar und flüsterte ihr beruhigend etwas ins Ohr. Henrietta war davon so verwirrt, dass sie sofort aufhörte zu weinen und mit großen Augen zu der marokkanischen Frau aufsah. » Eh-daa, a bentti . Pssst.« Der Schleier löste sich vom Gesicht der amina , und Cat sah verblüfft, dass sie auffallend schön war, mit riesigen dunklen Augen, sanft geschwungenen Brauen, einer langen geraden Nase und leuchtender olivfarbener Haut. Dann wurde der Schleier mit einer gekonnten Bewegung rasch wieder befestigt, als spürte die Frau die lastenden Blicke der anderen.
Anschließend unterzogen sie Maria derselben Prüfung wie die arme Alice Johns. Die patrona und die schlanke Frau befühlten die schlaffe Haut am Bauch und die Hängebrüste, dann schüttelte die ältere den Kopf und rief der Schreiberin ein Wort zu, die es in eine Spalte auf der anderen Seite eintrug.
Als Nächstes war Nell Chigwine an der Reihe. Mit hoch erhobenem Kopf sah sie der patrona in die Augen. »Ich werde mich entkleiden, ohne mich des Körpers zu schämen, den mir der Herr geschenkt hat. Ich werde meine Kleider ausziehen und sie unter meine Füße legen und darauf treten, so wie Jesus es tat, damit ihr seht, dass eine gute Christin keine Angst vor euren Einschüchterungsversuchen hat.« Dann zog sie das ruinierte Kleid, das Hemd und die Unterhose aus, schleuderte alles auf den Boden und stand vor ihnen, ein armseliges Häufchen Haut, Knochen und blasse Haarbüschel.
Jemand fing an zu kichern. Die patrona ließ einen Schwall von kehligen Lauten los, kreischte und schlug mit bloßen Händen auf Nell ein. Schließlich bückte sie sich wütend nach den Kleidern und bewarf sie damit. »Ich habe nicht gesagt, du sollst dich ausziehen«, fauchte sie. »Du bist keine murtafa-at , du bist nutzlos, spindeldürr.«
Ann Fellowes, Nan Tippet und Cats Tante Mary Coode wurden nacheinander inspiziert, und am Schluss war Cat an der Reihe. Die Frau in dem mitternachtsblauen Gewand betrachtete
interessiert die Djellaba, die sie trug, zupfte an einem Ärmel und befühlte den Stoff. Dann drehte sich die amina zu der älteren Frau und sprach lebhaft auf sie ein. Die patrona machte ein abwägendes Gesicht, nickte dann und antwortete ausgiebig. Cats Herz pochte. Das Buch, dachte sie. Sie dürfen mir mein Buch nicht wegnehmen. Das wurde plötzlich lebenswichtig, als bewahrte es in seinem kalbsledernen Einband alles, was von ihrer Identität übrig geblieben war.
»Runter!« Die patrona funkelte Cat an. »Ausziehen!«
Wie
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