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Die Zehnte Gabe: Roman

Titel: Die Zehnte Gabe: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jane Johnson , Pociao
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Hand nach dem nächsten Felsbrocken ausstreckte, um Halt zu finden. Die Hitze des Tages hatte ihn verlassen; jetzt fühlte er sich vollkommen kalt und rau an, rau und kalt, und dennoch irgendwie lebendig...
    Plötzlich huschte eine rasche Folge von Bildern durch ihren Kopf - eine Frau, deren Tränen das Indigoblau ihres Gewandes dunkel färbten, ein Kind mit einem runden Kopf, das nach dem Rockzipfel seiner Mutter griff, das Aufblitzen eines durch die Luft fliegenden Schwerts; silberner Glanz im Blau. Ein in Windeln gewickeltes Baby mit großen dunklen Augen, das hilflos
im Sand lag. Der nackte Körper eines Mannes, der sich hob und senkte; die Wölbung seines Hinterns vom flackernden Licht einer Kerze beleuchtet. Schockiert riss sie die Augen auf.
    »Was ist?«, fragte Rahma scharf und fasste sie am Arm. »Hast du etwas gesehen?«
    Seltsam beschämt machte Mariata sich los. »Nein, nichts. Ich bin nur müde.«
    Sie nahm die Decke von ihrem Kamel und legte sich auf den harten Boden, konnte jedoch nicht einschlafen. Die Welt bewegte sich in ihr, als marschierte sie immer noch. Ihr Kopf drehte sich. Ein Schwall von Bildern rauschte auf sie zu - Männer mit Gewehren über der Schulter, Rhossis lüsternes Gesicht ganz dicht vor ihr, ein Skelett, an dem sie in der Wüste vorbeigekommen waren, die Knochen von Aasgeiern abgefressen und von der Sonne ausgebleicht; halb verhungerte Kinder, eine weinende Frau - bis ihr schlecht war vor Angst. Als sie sich aufsetzte, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen, hatte sie nur noch einen Gedanken: Sie war allein auf der Welt, ihrer Gnade ausgeliefert, ohne jeden Schutz außer dem einer fremden verrückten Frau. Die Sterne schienen vom Himmel, unbewegt von ihrem Schicksal. Tränen des Selbstmitleids brannten in ihren Augen, und in diesem Moment hörte sie die Stimme.
    Erinnere dich, wer du bist, Mariata. Gedenke deines Erbes. Du trägst uns alle in dir: Wir sind immer bei dir, bis zurück zu unser aller Mutter. Erinnere dich, wer du bist, und verzweifle nicht...
     
    In dieser Nacht träumte Mariata. Sie war wieder im Hoggar. Seine zerklüfteten Hügel erhoben sich in den strahlend blauen Himmel. Sie saß in der Sonne und sah zu, wie ihre Mutter Azaz’ Haar zu Zöpfen flocht. Als sie ihren Bruder das letzte Mal gesehen hatte, war er groß und schmal gewesen, fast ein Mann mit seinem Gewand und dem blauen Schleier, doch im Traum war er noch ein kleiner Junge, mit fröhlichen Augen und einer breiten Lücke zwischen den Vorderzähnen. Jetzt fiel ihr
wieder ein, wie sie im Kreis um die alten Frauen herumgelaufen waren und Geschichten erfunden hatten, um einer Bestrafung zu entgehen, wenn einer von ihnen sich schlecht benommen hatte. Baye, die Kleinste, krabbelte nackt im Sand herum. Mutter ist so schön, dachte Mariata, als sie ihre raschen, geschickten Hände bewunderte und sah, wie die Sonne über ihre sanft geschwungenen Wangenknochen fiel. Wie lange sie diese stille Szene beobachtete, wusste sie nicht. Sie befand sich in der Traumzeit. Über Yemmas Kopf zogen hohe Wolken vorbei, die Sonne stieg am Himmel auf und wieder ab, auf und ab, als sie Bayes erste Zöpfe flocht und um die große, stetig wachsende Wölbung ihres Bauchs herumgreifen musste. Dann fiel ein Schatten über sie. Sie sah auf und lächelte, und die Zeit stand still. Was für ein Lächeln! Mariata hätte es den ganzen Tag und die ganze Nacht ansehen können. So viel Liebe lag darin, so viel Glück. Einen Moment lang fragte sie sich, was es wohl gewesen sein mochte, was ihrer Mutter dieses selige Lächeln entlockt hatte, und dann sah sie sich selbst neben ihrem hochgewachsenen Vater entlanggehen, in der Hand einen Korb mit Feigen, jenen Früchten, die ihre Mutter in dieser, der letzten Schwangerschaft so gern gegessen hatte. Und sie wusste, wie sie es immer gewusst hatte, dass ihre Mutter sie liebte, dass sie sie nicht freiwillig in dieser Welt zurückgelassen hatte, sondern auf sie aufpasste, so wie immer.
     
    Als die ersten Sonnenstrahlen über Mariatas Gesicht fielen, hatte sie im ersten Augenblick vergessen, wo sie war, fühlte sich aber ausgeruht und ruhig. Sie streckte sich, ohne dass ihre Gelenke knackten oder protestierten. Als sie aufstand, zitterten ihre Füße nicht, die Muskeln waren gelockert. Vielleicht lag es daran, was Rahma über die Steine gesagt hatte: dass sie unsichtbare Kräfte enthielten. Sie faltete die Decke zusammen und ging los, um einen davon genauer zu untersuchen.
    Drei Viertel des

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