Die Zehnte Gabe: Roman
gewaltigen Felsbrockens lagen im Schatten.
Sie ging einmal ganz herum und staunte über seine monumentale Größe und den kühlen Schatten, den er warf. Nur die östliche Seite war von der aufgehenden Sonne hell beleuchtet. Auf der Oberfläche waren eingemeißelte Buchstaben und Symbole in der alten Sprache ihres Volkes zu sehen, die sich vom Fuß bis fast zur Spitze in fünf Metern Höhe schlängelten. Sie verrenkte sich den Hals.
»Heute haben wir Majid beerdigt, einen tapferen Krieger, Ehemann von Tata und Vater von Rhissa, Elaga und Houna«, verkündete eine Inschrift.
Eine zweite lautete schlicht: »Sarid liebt Dinbiden, die ihn nicht liebt.«
Eine dritte bildete den Anfang eines Gedichts: » Asshet nannana shin ded Moussa, tishenan n ejil-di du-nedwa «, las sie laut vor. Töchter unserer Zelte, Töchter Moussas, denkt an den Abend unseres Aufbruchs...
Eine weitere, die erst nach oben und dann nach rechts führte, entzifferte sie zuerst als »Liebe ist ewig, das Leben nicht«. Doch dann ging ihr auf, dass man es auch anders lesen konnte: »Ewige Liebe ist seltener als das Leben.« Sie runzelte die Stirn, nein, sie konnte sich nicht entscheiden, welches die korrekte Bedeutung war. Es gab sogar noch eine Möglichkeit: »Wo Liebe ist, da lass dich nieder.«
»Poetisch, nicht?«
Mariata drehte sich um und entdeckte Rahma neben sich.
»Wer hat diese Inschriften gemacht, Leute aus deinem Dorf?«
Die alte Frau lachte. »Einige stammen von den Kel Nad, dem Volk der Vergangenheit. Niemand weiß, wie alt sie sind. Sie waren schon immer da, so weit die Ältesten sich zurückbesinnen können, und noch vor der Erinnerung ihrer Eltern und Großeltern.«
Mariata runzelte die Stirn. »Aber sie scheinen so... neu.« Es war ein unpassender Begriff, besonders wenn man sich für eine
Dichterin hielt. Was sie meinte, waren die in den Inschriften zum Ausdruck gebrachten Gefühle - es waren dieselben, die auch ihr eigenes Volk verspürte, jeden Tag.
»Die Vergangenheit umgibt uns Tag für Tag«, erklärte Rahma. »Und die Menschen sind im Wesentlichen alle gleich, egal ob sie vor Urzeiten gelebt haben oder heute.« An diesem Morgen wirkte sie fröhlicher, vielleicht, weil sie mit der Nachfahrin ihrer aller Stammmutter nach Hause zurückkehren würde.
Mariata jedoch machte der Gedanke an das, was von ihrerwartet wurde, allmählich nervös. Die Kel Bazgan zu verlassen, war nicht schwer gewesen. Sie hatte es getan, ohne einen Gedanken an die Zukunft zu verschwenden, und seitdem hatte die Durchquerung der Wüste ihr den Kopf größtenteils leer gefegt. Sie versuchte, nicht daran zu denken. Die Menschen sind im Wesentlichen alle gleich, sagte sie sich. Nichts, wovor man Angst haben musste.
Schließlich erreichten sie das Dorf. Die alte Frau begrüßte umständlich die vielen Nachbarn, die aus den Zelten kamen, um sie willkommen zu heißen. »Es geht mir gut«, erklärte sie auf alle Anfragen. »Dem Himmel sei Dank, es geht mir gut.« Dann erkundigte sie sich mit größter Höflichkeit nach den Familien der anderen und den Neuigkeiten und hörte sich geduldig die Antworten an, obwohl sie immer gleich waren: Mir geht es gut, meiner Frau geht es gut, meinen Söhnen geht es gut, meinen Töchtern geht es gut, Allah sei Dank. Am Ende wandte sie sich um und stellte ihnen Mariata vor: »Mariata ult Yemma ult Tofenat, Tochter der Kel Taitok, die aus dem Aïr-Gebirge und von den Kel Bazgan, bei denen sie lebte, zu uns gekommen ist. Sie hat mit mir die Tamesna durchquert, um meinem Sohn die Geister auszutreiben, von denen er besessen ist.«
Als sie ihren Sohn erwähnte, wich die anfängliche Bewunderung für die vornehme Herkunft und die lange Reise, die
Mariata auf sich genommen hatte, rasch verschlossenen Gesichtern. Es entging ihr nicht, doch alle waren höflich und wünschten ihr alles Gute und dass Gottes Segen sie vor den bösen Geistern schützen möge, denen sie vielleicht begegnen würde.
Rahma wechselte einige Worte mit einer kleinen dunkelhäutigen Frau, die eine hellrote Kopfbedeckung trug, woraufhin diese loslief und wenige Augenblicke später mit einer Schale Reis und Milch zurückkehrte. »Um die Hitze zu mildern«, sagte sie. Rahma nickte zustimmend und nahm ihr die Schale ab. Mariata warf mit knurrendem Magen einen sehnsüchtigen Blick darauf, aber Rahma sagte, an die andere Frau gewandt: »Wir müssen versuchen, ihn wieder in ein gewisses Gleichgewicht zurückzubringen.« Es sah so aus, als müsste das Frühstück
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