Die Zehnte Gabe: Roman
Die junge Frau geriet in Panik. War Rahmas Sohn wahnsinnig? Würde er mit Schaum vor dem Mund toben wie ein tollwütiger Hund oder um sich schlagen? Aber sie hatte auch Angst, dass er ganz normal aussehen könnte, bis auf die tanzenden Geister in den Augen. Sie fürchtete, dass sie nichts ausrichten könnte und sie
trotz ihrer vornehmen Herkunft letzten Endes nur eine ganz gewöhnliche junge Frau war. Und das war die Möglichkeit, die sie am meisten befürchtete.
Hinter den letzten Zelten, Hütten und Gehegen gab es einen Hain mit Olivenbäumen. Dort war auf einem steinigen Terrain zwischen zwei Tamarisken eine behelfsmäßige Unterkunft errichtet worden. Sie bestand aus kaum mehr als ein paar Decken und alten Getreidesäcken, die über die Äste gespannt waren. Im Schatten darunter erkannte Mariata die Gestalt eines Mannes. Ertrug ein schwarzes Gewand und einen eng ums Gesicht geschlungenen tagelmust , der nur einen schmalen Streifen des Gesichts sichtbar ließ, einen Schlitz, durch den unheilvoll zwei schwarze Augen funkelten.
Der Mann saß mit untergeschlagenen Beinen auf dem Boden, reglos, die Hände im Schoß verkrampft. Er bewegte sich auch dann nicht, als sie näher kamen, und machte keinerlei Anstalten, sie zu begrüßen. Er reagierte nicht einmal, als Rahma sich neben ihn hockte und ihm eine Hand auf die Wange legte.
»Gesegnet seist du, Amastan, mein Sohn. Du siehst besser aus als bei meiner Abreise, ja, bestimmt. Iss trotzdem ein wenig Reis mit Milch, um das Feuer in dir zu besänftigen.«
Sie stellte die Schale auf den Boden neben einen unberührten Teller mit Brot und Datteln. Er würdigte sie keines Blickes.
»Und sieh mal, ich habe noch etwas mitgebracht, eine Besucherin von weither. Mariata ult Yemma ult Tofenat von den Kel Taitok, sie ist eine direkte Nachfahrin von Tin Hinan und hat die Tamesna durchquert, um dich zu sehen. Willst du nicht aufstehen und sie begrüßen, wie es dem Hausherrn ziemt, damit sich der Gast wohlfühlt?«
Mariata spürte, wie Rahma versuchte, ihrem Sohn Mut zu machen, denn dies war kein Haus, und er war eindeutig nicht einmal Herr über seinen eigenen Verstand. Sie musterte das Wenige, was sie hinter dem schmalen Schlitz des Schleiers erkennen
konnte, sah aber nur schön geschwungene Brauen und Krähenfüße in den äußeren Winkeln der Augen, die sich blass von der dunklen Haut des ausdruckslosen Gesichts abhoben. Jetzt, aus der Nähe, sah er überhaupt nicht erschreckend aus, stellte sie zu ihrer Erleichterung fest und fing gerade an, sich zu beruhigen, als er unsicher vom Boden aufsah und sein Blick an ihrem Gesicht hängen blieb.
Es heißt, eine von Jägern in die Enge getriebene Gazelle bleibe oftmals wie gelähmt stehen, obwohl sie ihren Verfolgern mit einem Sprung entkommen könnte. So fühlte sich Mariata jetzt, als Amastan ihr in die Augen sah: wie gelähmt, bis ins Markerschrocken und außer Stande, sich zu retten.
Sie schaute in die ausdrucksvollsten Augen, die sie je gesehen hatte. Schmal, mandelförmig, die Augen eines Dichters, nicht eines Kriegers oder Soldaten. Sein bohrender Blick war so tief und dunkel wie das Wasser am Grund eines Brunnens: das letzte Wasser im Jahr, bevor der Brunnen austrocknet und die Lebewesen, die von ihm abhängig sind, verdursten.
Mariatas Herz schlug schneller. Sie spürte, wie die Muskeln in ihren Beinen zuckten, als wollten sie, ohne sie zu fragen, ihren Körper davontragen. Trotzdem blieb sie wie angewurzelt stehen.
Dann war der Moment verflogen. Mit einem Mal füllten sich Amastans Augen mit Tränen, sie liefen ihm über die Wangen, ohne dass er sie beachtete. Es war schockierend, einen Mann weinen zu sehen. Männer verbargen ihre Gefühle; das war Teil des asshak , ihres Kodexes von Stolz und Anstand. Mariata hatte noch nie gesehen, dass ein Mann solche Gefühle offenbarte, und merkte, wie ihm ihr Herz entgegenflog.
Manche Frauen können der Versuchung nicht widerstehen, etwas Zerstörtes wieder herzurichten; sie fühlen sich dafür verantwortlich, die Welt in Ordnung zuhalten - selbst wenn es nur um kleine Dinge geht wie schmutzige Wäsche zu waschen, ein Zelt zu fegen oder einen löchrigen Korb zu flicken. Mariata hatte
sich nie für eine solche Frau gehalten. Doch jetzt stand sie vor einem Mann, den das Leben gespalten hatte, und sie sehnte sich danach, die beiden Hälften wieder zusammenzusetzen.
»Wie lange ist er schon so?«, fragte Mariata, als sie mit Rahma zum Dorf zurückging. Je größer die
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