Die Zehnte Gabe: Roman
Entfernung zwischen ihr und dem besessenen Mann wurde, umso mehr beruhigte sich ihr Herzschlag, dennoch spürte sie seine Präsenz, als wären sie durch ein Band aneinander gefesselt, das sich bei jedem Schritt spannte.
Rahma antwortete eine Weile lang nicht. Schließlich kamen sie zu einem Felsen. Sie setzte sich und wandte ihr Gesicht der Sonne zu, sodass Mariata auf ihren Wangen die Spuren der getrockneten Tränen sehen konnte. »Sein Kamel brachte ihn wieder, als hätte es den Weg nach Hause gekannt, obwohl er seit mehr als einem Jahr nicht hier gewesen war. Er saß zusammengesunken auf seinem Rücken, wie in Trance. Er hatte keine Ahnung, wo er war: Seine Augen standen offen, aber er erkannte nicht einmal seine Mutter. Er war über und über mit Blut verschmiert. Ich dachte...«, ihre Stimme stockte, »er wäre tot... oder zumindest tödlich verwundet. Sein Schwert war verschwunden; es hatte meinem Bruder gehört, seinem anet ma und vorher dessen anet ma . Niemals hätte er sich freiwillig von diesem Schwert getrennt. Es war der Inbegriff all dessen, worauf er stolz war. Er hatte nichts bei sich, weder Nahrung noch Wasser. Wie er überlebt hat, ist mir ein Rätsel. Die Geister müssen ihn beschützt haben, weil sie noch etwas mit ihm vorhaben.
Das Einzige, was er noch behalten hatte, umklammerte er mit der rechten Hand. Wir versuchten, seine Finger aufzubiegen, doch er wehrte sich wie ein wildes Tier. Er hält es heute noch fest. Ich bin sicher, dass wir ihn retten können, wenn es uns gelingt, es ihm abzunehmen. Die Kel Asuf ziehen ihre Macht daraus, das steht fest. Wir haben alles versucht, Medizinfrauen haben ihm einschläfernde Kräuter gebraut, aber er rührte sie nicht
an. Die enad sang den Gesang des Windes, und wir schlugen die Trommeln, um ihm im Tanz die Geister auszutreiben, alles umsonst. Die marabouts haben vor ihm gebetet und Koranverse an seine Gewänder geheftet. Ich hätte ihnen gleich sagen können, dass sie nichts bewirken würden. Er hat sich die Kleider vom Leib gerissen und ist nackt herumgelaufen! Der Magier aus Tin Buktu hat ringsum sein Zelt Fetische und Zauber ausgelegt, die er aus dem Süden mitgebracht hatte. Amastan hat alles ignoriert und sich mit der rechten Hand unter dem Körper zum Schlafen gelegt. Jeder, der versucht, seine Hand zu öffnen, bekommt es mit der geballten Wut der wilden Geister in seinem Innern zu tun. So ist es jetzt seit drei Monaten oder mehr, aber sehr lange hält er es nicht mehr aus.«
Mariata biss sich auf die Unterlippe. »Ich würde ihm gern helfen, aber ich weiß nicht wie.«
Rahma drehte sich zu ihr um. »Er hat geweint, als er dich sah, Mariata. Das war die erste Gefühlsregung, die er in all der Zeit gezeigt hat.« Seufzend stand sie auf und wirkte plötzlicherschöpft. »Als kleiner Junge liebte Amastan die Dichtung«, fuhr sie fort. »Er machte eigene Verse und Lieder, er bezauberte die Mädchen im Dorf mit seinem Talent. Sie wollten ihn alle heiraten, er aber sagte immer, dass er sich erst binden wollte, wenn er zum Arbre de Téneré gegangen war, das Meer gesehen und den Schnee berührt hatte, der in den höchsten Bergen fällt.«
Mariata lächelte. Solche romantischen Vorstellungen waren ganz nach ihrem Geschmack. »Und was hat er davon erreicht?«
»Alles. Anschließend verlobte er sich mit einem Mädchen aus dem N’Fughas-Gebirge. Er war dorthin geritten, um sie zu holen und sie mir und seiner Großmutter vorzustellen, bevor sie heirateten. Meine Mutter war zu alt und zu krank für eine solche Reise, weißt du. Sie starb, noch bevor er zurückkam. Das war vermutlich ein Segen.«
Mariata spürte einen schmerzlichen Stich in der Brust. Er war verlobt? Sie sagte sich, dass es sie nichts anging, wenn ein Mann,
den sie überhaupt nicht kannte, jemandem versprochen war; trotzdem war sie enttäuscht. »Wo ist sie denn, seine Geliebte?«
Rahma wandte den Blick ab. »Ich weißes nicht. Niemand weißes. Sie ist wie vom Erdboden verschluckt. Aber hör nicht auf den Tratsch der Leute, ich bitte dich.« Noch ehe Mariata sich diese merkwürdige Bitte erklären konnte, fuhr die Alte hastig fort: »Worte sind der mächtigste Zauber von allen. Deine Großmutter wusste das. Die Macht der Worte hat deine Familie seit der Zeit unserer aller Mutter begleitet; wie sonst hätte sie andere überreden können, ihr in die Wüste zu folgen und unser Volk zu begründen? Sie war nur ein ganz gewöhnliches Mädchen - nicht älter als du -, ein junges Mädchen aus
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