Die zehnte Kammer
halten, Monsieur Pineau.«
Hugo nahm einen Schluck von seinem Tee, bevor er sich ein Paar Latexhandschuhe überstreifte. Dann wickelte er das Buch vorsichtig aus dem Handtuch und musterte den prachtvollen Einband aus rotem Leder. »Nun ja, das ist schon etwas Besonderes! Was hat es damit auf sich?«
»Ehrlich gesagt, weiß ich es selbst nicht. Mir war nicht einmal bekannt, dass sich dieses Buch in unserem Besitz befindet. Einer der Feuerwehrmänner hat es in der brennenden Wand entdeckt. Der Buchdeckel ist mit den Seiten verklebt, und ich wollte ihn nicht mit Gewalt öffnen.«
»Das war eine kluge Entscheidung. Wenn man nicht ganz genau weiß, was man tut, sollte man es lieber sein lassen, lautet ein Grundsatz von uns Restauratoren. Sehen Sie sich doch einmal die grünen und roten Flecken am Schnitt der Seiten an. Es würde mich nicht wundern, wenn das Buch farbige Bilder enthielte. Manche organischen Pigmente sind wasserlöslich.«
Er schob einen Finger vorsichtig unter den vorderen Buchdeckel und sah den Abt fragend an. »Die Seiten selbst werden sich nur voneinander lösen lassen, wenn wir das Buch gefriertrocknen«, sagte er. »Aber vielleicht gelingt es mir, den Deckel so weit anzuheben, dass wir das Deckblatt sehen können. Erteilen Sie mir die Erlaubnis dazu?«
»Wenn Sie es schaffen, ohne das Buch zu beschädigen, dann schon.«
Hugo holte ein ledernes Etui aus seiner Aktentasche und öffnete es. Es enthielt ein Sortiment von feinmechanischen Präzisionswerkzeugen, die Dom Menaud an ein Chirurgen-oder Zahnarztbesteck erinnerten: Pinzetten, feine Zangen, Skalpelle und weitere Instrumente, die der Abt noch nie gesehen hatte. Hugo wählte einen kleinen Spatel mit ultrafeiner Klinge und begann, ihn mit dem feinen Gespür eines Tresorknackers oder Bombenentschärfers Millimeter für Millimeter zwischen Buchdeckel und Deckblatt zu schieben.
Er brauchte gut fünf Minuten, bis er den Buchdeckel vom Frontispiz gelöst hatte. Der Abt beugte sich über Hugos Schulter und schnaufte hörbar, während sie miteinander die großen Buchstaben auf dem Deckblatt lasen. In lateinischer Sprache hatte da jemand mit runder, selbstbewusster Schrift die folgenden Worte geschrieben:
Ruac, 1307
Ich, Barthomieu, Mönch der Abtei Ruac, bin zweihundertundzwanzig Jahre alt, und dies ist meine Geschichte.
ZWEI
Auf halber Strecke zwischen Bordeaux und Paris in einem Großraumwagen Erster Klasse des TGV stellte Professor Luc Simard fest, dass sich die beiden wichtigsten Interessen seines Lebens wieder einmal heftig in die Quere kamen: die Arbeit und die Frauen.
Er hatte einen Einzelsitz auf der rechten Seite des Waggons und überarbeitete gerade einen Artikel, den er für die Zeitschrift Nature geschrieben hatte. Hinter den getönten Fenstern flitzte das flache, grüne Land vorbei. Luc nahm kaum etwas davon wahr, weil er gerade um die passenden englischen Formulierungen für seine erneut überarbeiteten Schlussfolgerungen rang. Vor vier Jahren, als er in den USA gelebt hatte, hatte er damit keinerlei Probleme gehabt – es war schon bemerkenswert, wie schnell eine Fremdsprache einrostete, selbst wenn man eigentlich zweisprachig war.
Natürlich hatte er die beiden hübschen Frauen bemerkt, die ein paar Reihen vor ihm auf der linken Seite des Waggons nebeneinandersaßen und sich hin und wieder lächelnd nach ihm umdrehten. Sie unterhielten sich dabei absichtlich gerade so laut, dass er jedes Wort hören konnte.
»Ich glaube, er ist ein Filmstar.«
»Und wie heißt er?«
»Ich bin mir nicht sicher. Vielleicht ist er doch Sänger.«
»Geh hin und frag ihn.«
»Nein, du.«
Es wäre ein Kinderspiel gewesen, die beiden auf einen Kaffee in den Speisewagen einzuladen. Mit Sicherheit hätte das beim Aussteigen am Bahnhof Montparnasse zum Austausch von Telefonnummern geführt, und vielleicht hätte er sich nach seinem Abendessen mit Hugo Pineau noch mit einer von ihnen oder vielleicht sogar mit allen beiden auf einen Drink verabredet.
Aber bevor er nach Bordeaux zurückfuhr, musste er unbedingt den Artikel fertigschreiben und außerdem noch eine Vorlesung vorbereiten. Strenggenommen hatte er überhaupt keine Zeit für dieses Treffen mit Hugo, aber sein alter Schulfreund hatte ihn geradezu angefleht, so schnell wie möglich zu ihm zu kommen. Er hätte da etwas, das er ihm nur persönlich zeigen könne, hatte er gesagt, und Luc würde garantiert nicht enttäuscht sein. Außerdem würde er ihm auf Firmenkosten einen Fahrschein Erster
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