DIE ZEIT City Guide Lissabon
Hausnummern 57 bis 63. Von hier aus kannst du nur ein Dekor aus blau-weißen Blumen erkennen. Doch wenn du näher trittst, purzeln Glockenblumenköpfe aus den Blütenblättern. Vier mal vier Kacheln, 14 mal 14 Zentimeter, fügen sich zu einem Tableau, das sich entlang der Mauer wiederholt, immer und immer wieder, vom Trottoir bis zum Dach. Das Haus hat die größte Fliesenfläche Lissabons, womöglich sogar ganz Portugals. Aber das kannst du nicht wissen, weil es in diesem Freilichtmuseum keine Schilder gibt.
Wenn du dich einer Führung anschließt, erzählt es dir die Historikerin Sofia Tempero. An der Ecke Rua da Esperança und Travessa das Isabéis wird sie die Stimme senken und ein Geheimnis mit dir teilen. An dieser Straßenecke steht ein Haus, das sein Baujahr, 1721, im Stein trägt. Rostige Bleche verhindern den Zutritt. Das Gebäude gleicht einer Ruine. »Aber im Innern«, wird Sofia flüstern, »sind die Wände komplett mit äußerst beeindruckenden Kacheln aus dem Jahr 1740 bedeckt.« Portugal, wird Sofia sagen, sei zwar schon immer arm gewesen, »deshalb gibt es in vielen Häusern der Altstadt bis heute keine Toiletten. Aber Azulejos, die gibt es überall. Selbst in den Wohnungen der einfachsten Leute.«
Sofia Tempero arbeitet im Auftrag der Stadt für ein Projekt mit dem sperrigen Namen Programa de Investigação e Salvaguarda do Azulejo de Lisboa, kurz: Pisal – ein Programm also zur Erforschung und Rettung der Fassadenfliesen von Lissabon. Vielleicht nimmt Sofia dich nach der Führung mit zum Mittagessen. Um diese Zeit weht der Geruch von gebratenem Fisch aus den kleinen Lokalen des Quartiers, die ihre Menüs meist nur auf Portugiesisch anschreiben, weil sich nicht viele Touristen nach Madragoa verirren. Und dann wird Sofia dir erzählen, dass die Fliesen, in die du dich gerade erst verliebt hast, dass das Strahlen der Stadt in Gefahr ist. »In manchen Vierteln«, sagt Sofia, »sind allein in den vergangenen Jahren bis zu 20 Prozent der Kacheln verschwunden«.
Die Diebe kommen nachts, mit Hammer und Meißel. Manchmal brauchen sie nur wenige Stunden, um einer Mauer sämtliche Kacheln vom Putz zu schlagen. Und du schluckst, wenn du erfährst, dass deine Begeisterung ein bisschen mit schuld daran ist. Weil erst die Touristen mit ihrem Enthusiasmus die Aufmerksamkeit der Lissabonner auf eine Sehenswürdigkeit gelenkt haben, die in ihren Augen längst zur Selbstverständlichkeit verblasst war.
Inzwischen werden antike Fliesen in der ganzen Stadt verkauft. Bei Antique Tiles an der Praça do Príncipe Real kannst du sie in Kisten ausliegen sehen, zu braven Häufchen gestapelt, traurig wie aufgespießte Schmetterlinge. Auf dem großen Flohmarkt, der Feira da Ladra rings um den Campo de Santa Clara, werden Exemplare aus dem 19. Jahrhundert oft regelrecht verramscht. Vier Stück für zehn Euro. Wenn du alles richtig machen willst und fragst, woher die Fliesen stammen, wird man behaupten, das Haus, an dem sie hingen, sei längst abgerissen worden. Natürlich. Nachweisen lässt sich die Herkunft sowieso nie, weil kein Gesetz danach verlangt.
Jetzt, wo du weißt, dass deine Azulejos vom Aussterben bedroht sind, wirst du anderntags mit anderen Augen durch das Bairro Alto streifen. Am Morgen ziehen Müllmänner dicke schwarze Wasserschläuche hinter sich her und zwingen deinen Blick aufs rutschige Pflaster, obwohl es an den Wänden so viel mehr zu sehen gibt. Du suchst nach neuen Mustern, freust dich, wenn du auf ein Exemplar stößt, das dir bisher noch nie begegnet ist. Und fühlst dich beim Fotografieren der Dekors auf einmal wie ein Artenschützer.
Die Prostituierten, für die das Viertel früher berüchtigt war, sind längst umgezogen. Aber eine andere Berufsgruppe hat ihre Spuren in den Straßennamen hinterlassen, in der Rua Diário de Noticias zum Beispiel, wo heute die Sportzeitung
A Bola
ihre Redaktionsräume hat. Heute gilt das Quartier als Kneipenparadies. Du fragst dich, ob es an der Geschäftigkeit des Bairro Alto liegt, dass die Azulejos hier überwiegend nur bis zum ersten oder zweiten Stockwerk reichen. Weil die Menschen hier womöglich nie genug Zeit hatten, um den Kopf zu heben, bis unters Dach zu schauen. Und wenn du es am Abend, nach ein paar Gläsern Wein, selbst versuchst, beginnt der Boden unter deinen Füßen zu schwanken.
Am nächsten Morgen wird dir elend sein. Deshalb nimmst du die Straßenbahn ins Alfama-Viertel. Am Miradouro de Santa Luzia blinzelt der Tejo durch nebligen Dunst und
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