DIE ZEIT City Guide Lissabon
Lisboa
verbindet die Lissabonner Stadtteile Alfama, Baixa, Lapa und Prazeres und zählt zu den berühmtesten Straßenbahnstrecken der Welt, aber das wusste ich damals nicht. Ich hatte auch keine Ahnung von den legendären 13,5 Prozent Steigung, die die Bahn auf ihrer Strecke überwindet. Ich wollte einfach sitzen, meinen Gedanken nachhängen und mich in die Nacht bringen lassen.
Eine Fahrt mit der 28 ist nicht die bequemste Art, in Lissabon von A nach B zu kommen. Sie setzt sich zusammen aus einem stetigen Wechsel von abruptem Bremsen und ruckartigem Anfahren. Die Räder rattern höllisch laut, die Sitze sind unbequem, und sehr oft bleibt sie stehen, weil Autos die Gleise blockieren. Gleichzeitig hat eine Fahrt in der 28 aber auch etwas wunderbar Nostalgisches. Man ertappt sich dabei, wie man mit dem Finger über das polierte Holz fährt. Und spürt, wie man allmählich ruhiger wird.
Damals, beim ersten Mal, ruckelte die 28 an den Fenstern großer Wohnungen vorbei, in denen Licht brannte, und in einer dieser Wohnungen saß eine junge Frau hinter ihrem Computer. Sie schaute aus dem Fenster, als die Bahn in Zeitlupe vorbeizuckelte, und für ein paar Sekunden trafen sich unsere Blicke. Dann lächelte sie, und sie lächelte alle Melancholie weg, einfach so. In diesem Moment wusste ich, dass ich eigentlich nie mehr aussteigen wollte.
Seitdem fahre ich immer mit der 28, wenn ich in Lissabon bin, oft gleich zweimal hintereinander von einer Endstation zur anderen, weil sich in der Zwischenzeit so viel verändert hat: In der Wohnung, in der eben noch ein Tisch gedeckt wurde, sitzt die Familie nun beim Dessert. Das Paar, das sich eben noch in den Armen lag, streitet jetzt. Und aus der Sé, der Kathedrale, auf deren Treppe sich zwei Großmütterchen abmühten, strömt mittlerweile ein himmelhochjauchzender Choral.
Manchmal entdecke ich auf diesen Fahrten Passagiere, die wie ich kein Ziel zu haben scheinen. Die Frau am Computer habe ich nie mehr gesehen. Doch ihr Lächeln trage ich in meinem längst reparierten Herzen, jedes Mal, wenn ich in der 28 sitze.
Goldene Zeit
Warum wir die Miradouros lieben.
VON GONÇALO M. TAVARES
Ich sitze gerne auf der Esplanada do Adamastor und lese. Meistens komme ich irgendwann am späten Nachmittag und bleibe bis zum Einbruch der Dunkelheit. Die Esplanada ist ein Aussichtspunkt, ein
miradouro,
was in der wörtlichen Übersetzung so viel wie »Gold anschauen« bedeutet. Und genau das macht jene Plätze Lissabons aus, die über den Dächern der Stadt liegen: Der Sonnenuntergang entfaltet hier die magische Anziehungskraft eines Lagerfeuers. Alle bleiben stehen, alle sehen zu, wie dieses große, leuchtende Etwas langsam hinter dem Horizont verschwindet. Und es fühlt sich an, als würden sich die Menschen wie in alten Zeiten rings um ein Feuer versammeln.
In der Mitte der Esplanada befindet sich ein Standbild des Ungeheuers Adamastor, nach dem der Platz benannt ist. Es symbolisiert die Gefahren der Meere, denen die portugiesischen Seefahrer im Laufe der Geschichte tapfer getrotzt haben. Am Miradouro do Adamastor versammeln sich Menschen aus aller Herren Länder: Weiße und ganz Weiße, Schwarze und ganz Schwarze, Orientalen. Die Lissabonner sitzen auf der Terrasse und trinken ihren Kaffee, doch man trifft hier auch viele Zugereiste. Es sind weniger die Touristen, die hierher kommen, als die in Lissabon lebenden Ausländer. Auch sie haben diesen Ort für sich entdeckt: als einen außergewöhnlichen Treffpunkt für außergewöhnliche Menschen. Sie alle sind hier, um die Sonne anzusehen. Und nach oben zu schauen.
In einem Buch über das russische Künstlerpaar Ilja und Emilia Kabakow habe ich einmal etwas gelesen, das mir perfekt zur Esplanada do Adamastor zu passen scheint. Die beiden empfehlen darin eine Augenübung, bei der es darum geht, regelmäßig den Blick zu heben. Es sei nämlich wissenschaftlich erwiesen, so die Künstler, dass dabei die negativen Gefühle verschwinden, die Gedanken zur Ruhe kommen und Raum für erhebende, edle Ideen und Eingebungen entstehen. Es geht den Kabakows also um ein Mentaltraining, analog zum Körpertraining. Ob der Kopf gehoben oder gesenkt ist, beeinflusst die Art des Denkens.
Vielleicht sitze ich auch deshalb so gerne auf der Esplanada do Adamastor – weil ich an diese Medizin der Vorstellungskraft glaube. Man kann die Einwohner Lissabons in zwei Kategorien unterteilen: die mit gesenktem Kopf (die Depressiven, in sich gekehrten) und die mit
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