Die Zeit der Hundert Königreiche - 4
antwortete Mirella. »Und wir wollten uns gerade auf den Rückweg machen, als es zu regnen begann, und wir suchten Unterschlupf in der Hütte eines Hirten … und dann, o gnädige Göttin, fühlten wir … fühlten wir das Feuer … und die Schreie…« Ihr Gesicht wurde bleich, und Varzil streckte die Hand aus und faßte die der jungen Frau mit festem Griff.
»Du mußt versuchen zu vergessen, liebes Kind. Es wird immer in dir sein -ja, keiner von uns in allen Türmen wird jemals fähig sein zu vergessen«, sagte Varzil. »Meine jüngste Schwester Dyannis war Le ronis in Hali, und ich spürte sie sterben … « Er verstummte, und einen Augenblick lang blickte er nach innen auf das Grauen. Dann nahm er sich zusammen und erklärte fest: »Wir müssen immer daran denken, Rella, daß ihr Heldentum einen weiteren Schritt auf den Tag zu ermöglicht hat, an dem das ganze Land dem Vertrag beigetreten ist. Denn du weißt, sie strahlten das Geschehen mit voller Ablicht aus während sie starben, hielten sie ihren Geist offen, damit wir alle sehen, hören und fühlen konnten, wie sie litten. Statt dessen hätten sie so leicht, so schnell vom Leben Abschied nehmen können.. « Mirella erschauerte. »Ich hätte es nicht tun können! Ich glaube, bei der ersten Berührung des Feuers hätte ich mein Herz angehalten und wäre einen gnädigen Tod gestorben … «
»Vielleicht«, meinte Varzil sanft. »Wir sind nicht alle gleichermaßen heldenhaft. Und doch hättest du, umgeben von den anderen, auch den Mut dazu finden können.«
Bard sah in Varzils Geist das Bild einer Frau, deren Körper wie eine Fackel loderte … Aber Varzil schloß es weg und sagte: »Du mußt jetzt einen anderen Turm wählen, Rella; möchtest du gern nach Arilinn oder nach Tramontana?«
»Tramontana ist ein gefahrvoller Posten«, erwiderte sie, »denn Aldaran ist dem Vertrag noch nicht beigetreten und könnte Tramontana angreifen. Ich schulde euch allen einen Tod. Deshalb will ich nach Tramontana gehen.«
»Das ist nicht notwendig«, redete Varzil ihr freundlich zu. »Für Leroni wird es eine Menge Arbeit hier geben, wo die Wunden der in Hali Verbrannten und Verletzten zu heilen sind, oder in den Venzabergen, wo Knochenwasserstaub versprüht wurde und Kinder im Sterben liegen.«
»Diese Aufgabe«, erklärte Mirella, »will ich den Heilerinnen und den Priesterinnen Avarras überlassen, wenn sie es über sich bringen, ihre isolierte Insel im See des Schweigens zu verlassen. Meine Aufgabe liegt in Tramontana; sie ist mir auferlegt, Varzil.«
Varzil neigte den Kopf. »Dann sei es so. Ich bin nicht der Hüter deines Gewissens. Und ich sehe während meiner Lebenszeit und noch viele Generationen nach mir keinen Frieden in Aldaran und keine Sicherheit für Tramontana voraus. Aber wenn es dir auferlegt ist, nach Tramontana zu gehen, Mirella, dann seien aller Götter mit dir, Kleines.« Er erhob sich, nahm Mirella in die Arme und drückte sie an sich. »Nimm meinen Segen, Schwester. Und vergiß nicht, mit Melora zu sprechen, bevor du gehst.«
Als er sie losließ, sprach sie noch einmal Bard an.
»Bringt meinem Großvater und Melisandra meine Grüße, vai dom Und sagt ihnen, wenn wir uns nicht wiedersehen, sind das die Wechselfälle des Krieges. Ihr, der Ihr Kommandant wart, als ich das erste Mal als Leronis in den Krieg zog, werdet das verstehen.« Sie betrachtete ihn genauer, und es war etwas in seinem Gesicht, das ihren Blick weicher werden ließ. Sie sagte: »Jetzt, da Ihr einer von uns seid, werde ich um Euren Frieden und Eure Erleuchtung beten, Sir. Die Götter mögen Euch schützen.«
Sie verließ das Zimmer, und Bard wandte sich in seiner Verwirrung an Varzil.
»Was, zum Teufel, hat sie damit gemeint einer von uns?«
»Nun, sie sah, daß du neuerdings mit Laran begabt bist«, erklärte Varzil. »Meinst du, eine Leronis erkennt jemand anders, der Donas hat, nicht?«
»Kann man - beim Wolf Alars -, kann man das sehen?« Seine Verblüffung war so offensichtlich - drückte sich das, was er geworden war, in einem sichtbaren Zeichen aus? -. daß Varzil beinahe gelacht hätte.
»Nicht mit den Augen des Körpers. Aber sie sieht es, wie es jeder von uns tun würde - du mußt wissen, wir betrachten uns gegenseitig kaum mit den Augen des Körpers, wir sehen es an … an der Außen seite deines Geistes. Keiner von uns würde unaufgefordert deine Gedanken lesen, nicht einmal ich. Aber im allgemeinen erkennen wir uns gegenseitig.« Er lächelte. »Glaubst du vielleicht, der
Weitere Kostenlose Bücher