Die Zeit der hundert Königreiche
Töpfchen mit Butter und Honig und verteilte sie in regelmäßigen Abständen auf dem Frühstückstisch. Und während sich die Bänke mit schwarzgekleideten Gestalten füllten, goß sie aus Krügen kalte Milch oder heißen Rindentee ein. Beim Frühstück war das Sprechen erlaubt, obwohl die anderen Mahlzeiten im Schweigen der Meditation eingenommen wurden. An den Tischen klang Plaudern und fröhliches Lachen auf, die tägliche Erholung der Priesterinnen von der Feierlichkeit, zu der sie die meiste Zeit verpflichtet waren. Sie kicherten und schwatzten, wie es jede Gruppe von Frauen irgendwo in den Königreichen hätte tun können. Schließlich hatte Carlina alle bedient und setzte sich auf ihren eigenen Platz.
»… aber es ist jetzt ein neuer König in Marenji«, sagte eine der Schwestern zu ihrer Linken, die mit einer dritten sprach. »Und nicht genug, daß der König Tribut von ihnen fordert! Es ist auch jeder gesunde Mann, der Waffen tragen kann, ausgehoben worden, um in der Armee des Lord Generals gegen die Hasturs zu kämpfen. König Alaric ist noch ein Junge, heißt es, aber der Befehlshaber seiner Armee war früher ein berühmter Räuber, den man den Kilghard-Wolf nannte, und jetzt ist er der Lord General. Er soll schrecklich sein. Er hat Hammerfell und Sain Scarp erobert, und die Frau, die das Leder für die Schuhsohlen bringt, erzählte mir, daß auch Serrais vor ihm gefallen ist. Und jetzt marschiert er über die Ebenen von Valeron, und bald wird er alle Hundert Königreiche gegen die Hasturs führen …«
»Ich finde das gottlos«, warf Mutter Luciella ein, die – so hieß es – schon lange genug lebte, um sich an die Herrschaft der alten Hastur-Könige zu erinnern. »Wer ist dieser Lord General? Gehört er nicht zum Stamm Hasturs?«
»Nein. Man sagt, er habe geschworen, das Land aus Hastur-Händen zu nehmen«, berichtete die erste Sprecherin, »und die gesamten Hundert Königreiche. Er ist der Halbbruder des Königs und der eigentliche Herrscher, wer auch auf dem Thron sitzen mag. Schwester Liriel«, wandte sie sich an diese, »bist du nicht vom Hof von Asturias gekommen? Weißt du, wer dieser Mann sein könnte, den sie den Kilghard-Wolf nennen?«
Die plötzliche Anrede entlockte Carlina ein Ja, doch gleich fing sie sich wieder und sagte streng: »So etwas darfst du nicht fragen, Schwester Anya. Was ich auch früher gewesen sein mag, jetzt bin ich nur noch Schwester Liriel, Priesterin der Dunklen Mutter.«
»Hab dich nicht so«, meinte Anya gekränkt. »Ich dachte, Neuigkeiten aus deiner Heimat würden dich interessieren. Könnte doch sein, daß du diesen General kennst!«
Es muß Bard sein , dachte Carlina. Es gibt keinen anderen, der dieser General sein könnte . Laut erklärte sie mit Nachdruck: »Ich habe jetzt keine andere Heimat mehr als die Heilige Insel«, und grub ihren Löffel heftig in den Brei.
… Nein. Sie hatte kein Interesse mehr für das, was jenseits des Sees des Schweigens vorging. Sie war nichts anderes mehr als eine Priesterin Avarras und war es zufrieden, das ihr ganzes Leben zu bleiben.
»Du hast gut reden«, warf Schwester Anya ihr vor, »aber als vor einem halben Jahr bewaffnete Männer auf die Insel vordringen wollten, fragten sie nach dir, und zwar unter deinem alten Namen. Glaubst du, Mutter Ellinen wisse nicht, daß du einmal Carlina genannt worden bist?«
Der Klang dieses Namens zerrte an ihren bereits strapazierten Nerven. Carlina – Schwester Liriel – erhob sich zornig. »Du weißt ganz genau, daß es verboten ist, den weltlichen Namen einer Schwester auszusprechen, die hier Zuflucht gesucht und unter dem Mantel der Mutter gefunden hat! Du hast ein Gesetz des Tempels gebrochen. Als deine Vorgesetzte befehle ich dir, angemessene Buße zu tun!«
Anya sah sie mit großen Augen an. Vor Carlinas Zorn ließ sie den Kopf hängen, dann glitt sie voll ihrem Platz und kniete auf dem Kopfsteinpflaster des Fußbodens nieder. »Vor uns allen bitte ich dich demütig um Verzeihung, meine Schwester. Und ich verurteile mich dazu, einen halben Tag lang das Gras zwischen den Steinen des Tempelweges auszustechen und zu Mittag nichts anders zu essen als Brot und Wasser. Ist das genug?«
Carlina kniete neben ihr nieder. Sie sagte: »Das ist zu hart. Nimm eine richtige Mahlzeit zu dir, kleine Schwester, und ich selbst werde dir beim Säubern der Steine helfen, sobald ich mit meiner Arbeit im Haus der Kranken fertig bin. Denn auch ich bin schuldig, weil ich die Beherrschung
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