Die Zeit der hundert Königreiche
verloren habe. Doch im Namen der Göttin bitte ich dich inständig, liebe Schwester, laß die Vergangenheit unter dem Mantel verborgen sein und sprich diesen Namen niemals mehr aus.«
»So soll es sein.« Anya erhob sich, nahm ihren Napf und ihre Tasse und trug beides in die Küche.
Carlina, die ihr mit ihrem eigenen Geschirr folgte, versuchte reuig, die Falte zu glätten, die sie zwischen ihren Brauen spürte. Die Nennung des Namens, den sie abgelegt hatte – für immer, hatte sie gehofft –, hatte sie heftiger aufgeregt, als sie zugeben mochte, und längst vergessene Gefühle aufgeweckt. Sie hatte hier Frieden, Kameradschaft, nützliche Arbeit gefunden. Hier war sie glücklich. Im Grunde hatte es sie nicht beunruhigt oder geängstigt, als Bard mit Bewaffneten am Ufer des Sees erschienen war. Sie hatte sich darauf verlassen, daß Avarra sie schützen werde, und sie vertraute fest darauf, daß sie auch weiterhin in Sicherheit war. Ihre Schwestern und der Zauber, den sie auf die Wasser des Sees gelegt hatten, schützten sie.
Nein, sie hatte keine Angst gehabt. Sollte Bard ganz Asturias, alle Hundert Königreiche erobern, das bedeutete ihr nichts.
Sie dachte nicht mehr an ihn, und er spielte in ihrem Leben keine Rolle mehr. Damals war sie ein junges Mädchen gewesen. Jetzt war sie eine Frau, eine Priesterin Avarras, und sie war sicher innerhalb der Mauern ihres erwählten Zufluchtsortes.
Schwester Anya hatte bereits damit angefangen, das Gras zwischen den Steinen auszustechen. Es war eine schwere Arbeit, die getan werden mußte, jedoch keiner Schwester aufgetragen werden konnte. Deshalb blieb sie liegen, bis jemand sie freiwillig als Buße für den Bruch einer Regel oder eine tatsächliche oder eingebildete Unvollkommenheit im Betragen auf sich nahm. Gelegentlich diente sie auch als Ventil für überschüssige Energie. Carlina dachte, die körperliche Anstrengung, das dichtverfilzte Gras zu beseitigen, das die Steine des Weges aus ihrer Lage drängte, werde ihr guttun. Es war eine schweißtreibende Arbeit, die Steine hochzuwuchten und von Gras und Dornenranken zu befreien. Dabei würden sich ihre Ängste verlieren. Aber sie war noch nicht frei, sich der beruhigenden Monotonie hinzugeben, denn heute war sie an der Reihe, die Kranken zu pflegen. Sie legte Schürze und Kopftuch ab, stellte das Geschirr zurecht, das die jungen Novizinnen abwaschen würden und begab sich ins Haus der Kranken.
In den Jahren, die sie auf der Insel des Schweigens weilte, hatte sie viel über die Heilkunst gelernt und zählte jetzt zu den fähigsten Heilerinnen der Priesterinnen zweiten Grades. Eines Tages – das wußte sie, würde sie zu den Besten gehören, denen die Aufgabe anvertraut wurde, andere zu unterrichten. Allein ihre Jugend war der Grund, daß ihr dies Amt noch nicht übertragen worden war. Das war keine Eitelkeit, es war die realistische Einschätzung der Fähigkeiten, die sie sich hier erworben hatte. Zu Hause in Asturias hatte sie keine Ahnung davon gehabt, denn niemand am Hof hatte sich damit abgegeben, diese Kunst zu pflegen und zu lehren.
Zuerst kamen die täglichen Routinearbeiten. Eine Novizin hatte sich die Hand am Breitopf verbrannt. Carlina versorgte die Wunde mit Öl und Gaze und hielt der jungen Schwester eine kleine Vorlesung über die gebotene Vorsicht beim Umgang mit heißen Gegenständen. »Meditation ist schön und gut«, erklärte sie streng, »aber wenn du heiße Gefäße über dem Feuer hast, ist das nicht die richtige Zeit, sich ins Gebet zu versenken. Dein Körper gehört der Göttin; deine Pflicht ist es, für ihn als ihr Eigentum zu sorgen. Hast du das verstanden, Lori?« Sie goß Tee auf für eine der Mütter, die an Kopfschmerzen litt, und eine Novizin, die Krämpfe hatte. Dann besuchte sie eine der sehr alten Priesterinnen, die bewußtlos in einen ruhigen, schmerzlosen Tod hinüberdämmerte. Carlina konnte wenig für sie tun, außer daß sie ihr die Hand streichelte, denn die alte Frau sah und erkannte sie nicht mehr. Einer Priesterin, die in der Milchwirtschaft arbeitete und von einem der Tiere getreten worden war, verabreichte Carlina eine flüssige Salbe.
»Reib deinen Fuß damit ein, Schwester, und denke in Zukunft daran, daß das Tier zu dumm ist, um auf dich Rücksicht zu nehmen. Deshalb mußt du so vernünftig sein, ihm deine Füße nicht in den Weg zu bringen. Und geh einen oder zwei Tage lang nicht in den Stall. Mutter Allida wird wahrscheinlich heute sterben. Setz dich zu ihr,
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