Die Zeit der hundert Königreiche
anderen Männern hinzugeben, und dann glaubte die Frau fest daran, Vater des Kindes sei der, den sie erwählt habe. Aber jetzt, wo die Vererbung von Besitztum so fest mit der offiziellen Vaterschaft verknüpft war, hatte Carlina leider keine andere Wahl, als einer Frau zu raten, sich mit ihrer Unfruchtbarkeit abzufinden oder sich einen Liebhaber zu nehmen und den Zorn ihres Mannes zu riskieren. Die alte Methode, dachte sie, war vernünftiger gewesen.
Auch die zweite Frau hatte ein Problem, das mit dem Kinderkriegen zusammenhing. Das wunderte Carlina nicht, denn an die Göttin wandten sich Frauen für gewöhnlich in solchen Fällen.
»Wir haben drei Töchter, aber alle unsere Söhne starben bis auf den jüngsten«, berichtete die Frau, »und mein Mann ist böse auf mich, weil ich seit fünf Jahren kein Kind mehr bekommen habe, und er nennt mich wertlos …«
Die alte Geschichte , dachte Carlina und fragte: »Sag mir, wünschst du dir wirklich noch ein Kind?«
»Wenn mein Mann sich zufriedengäbe, täte ich es auch«, antwortete die Frau zitternd. »Denn ich habe acht Kinder geboren, von denen vier noch leben, und unser Sohn ist gesund und kräftig und bereits sechs Jahre alt. Und unsere älteste Tochter ist bereits alt genug zum Heiraten. Aber ich halte es nicht aus, daß er mir zürnt …«
Carlina erklärte ernst: »Du mußt ihm sagen, daß es der Wille Avarras ist, und er muß ihr dankbar sein, daß euch ein Sohn gelassen wurde. Er soll sich an den Kindern freuen, die er hat, denn nicht du bist es, die ihm weitere Kinder verweigert, sondern die Mutter selbst sagt dir: Du hast dein Teil getan, indem du so viele Kinder geboren hast.«
Die Erleichterung sprach der Frau aus den Augen. »Aber er wird sehr böse werden, und vielleicht wird er mich schlagen …«
»Wenn er das tut …« – Carlina konnte ein Lächeln nicht verbergen –, »… sage ich dir im Namen Avarras, daß du ein Holzscheit aus dem Feuer nehmen und ihm damit über den Kopf schlagen sollst. Und wenn du schon einmal dabei bist, gib ihm einen zweiten Schlag von mir.« Ernster setzte sie hinzu: »Erinnere ihn auch daran, daß die Götter den bestrafen, der sie mißachtet. Er soll froh sein über den Segen, den er erhalten hat, und nicht gierig sein nach mehr.«
Die Frau dankte ihr, und Carlina dachte benommen: Gnädige Mutter, acht Kinder hat sie geboren und wäre doch bereit gewesen, noch mehr zu bekommen?
Die letzte Frau war in den Fünfzigern, und als sie in das kleine Zimmer gerufen wurde, teilte sie Carlina schüchtern mit, sie habe wieder zu bluten begonnen, obwohl die Zeit dafür schon viele Jahre vorbei sei. Sie war dünn und blaß und hatte eine ungesunde Gesichtsfarbe, und zum ersten Mal führte Carlina, nachdem sie ihr eine Menge Fragen gestellt hatte, außer der Untersuchung mit dem Sternenstein auch eine körperliche durch. Dann sagte sie: »Ich habe nicht die Fähigkeit, dies selbst zu behandeln. Du mußt in zehn Tagen wiederkommen, um mit einer der Mütter zu sprechen. Inzwischen trink diesen Tee …« Sie reichte ihr ein Päckchen. »Er wird den Schmerz lindern und die Blutung verringern. Gib dir Mühe, gut zu essen und etwas Fleisch anzusetzen, damit du genug Kraft für jede Behandlung hast, die die Mutter notwendig finden wird.«
Die Frau ging mit ihrem Päckchen Kräutertee. Carlina setzte sich seufzend hin und dachte an das, was wahrscheinlich würde geschehen müssen. Eine Neutrierung mochte die Frau retten. Nur die besten Heilerinnen konnten entscheiden, ob es der Mühe wert war oder ihr Leiden nur verlängern würde. In diesem Fall gab die Oberpriesterin ihr dann ein weiteres Päckchen mit Tee, doch dies enthielt ein langsam wirkendes Gift, das ihr den Tod brachte, bevor der Schmerz ihr die Menschenwürde raubte. Carlina graute vor diesem Urteilsspruch, aber Avarras Gnade schloß auch den Tod für jene ein, die auf jeden Fall würden sterben müssen. Den ganzen Nachmittag, während sie sich an Anyas Seite mit den zähen Grassoden und den verfilzten Dornen abplagte, die die Steine des Tempelpfades aus ihrer Lage drängten, dachte sie an die Frauen, die zufrieden gegangen waren, und der einen hatte sie nicht helfen können. Kurz vor dem Gebet bei Sonnenuntergang ließ Mutter Ellinen sie rufen.
»Mutter Amalie hat eine Vision gehabt«, teilte sie Carlina mit. »Danach brauchen wir zusätzlichen Schutz. Wir werden von neuem angegriffen werden. Und ich sehe voraus, daß sie deinetwegen kommen.« Sie klopfte Carlinas Hand.
Weitere Kostenlose Bücher