Die Zeit der hundert Königreiche
warum. Melora sagte: »Ihr gehört immer noch der Göttin, oder nicht?«
»Immer. Aber selbst wenn ich zum See des Schweigens zurückkehren könnte, bin ich mir nicht sicher, ob ich es tun sollte. Ich glaube, wir haben auf unserer kleinen Insel zu isoliert gelebt, geschützt von mächtigem Zauber, und es hat uns nicht gekümmert, was in der Welt draußen vorgeht. Und doch … wie können unverheiratete Frauen ohne das in Sicherheit zusammenleben?«
»Die Schwesternschaft vom Schwert tut es«, stellte Melora fest.
»Aber sie haben Mittel, sich zu schützen, die wir nicht haben«, wandte Carlina ein und dachte: Ich könnte niemals ein Schwert schwingen: ich bin eine Heilerin, ich bin eine Frau … Mir scheint es nicht zum Leben einer Frau zu gehören, Krieg zuführen, wohl aber, für andere zu sorgen …
»Vielleicht«, meinte Melora zögernd, »braucht die Göttin eure beiden Schwesternschaften, die eine, damit sie stark sei, und die andere, damit sie helfe und heile …«
Carlinas Lächeln war zitterig. »Sie werden wohl für unsere Art des Lebens nicht mehr Achtung haben als …« – das gestand sie kläglich – »… wir für ihre.«
Meloras klare Stimme war keine Befehlsstimme, aber sie hätte es recht gut sein können. »Dann müßt ihr lernen, Achtung für die andere Lebensweise zu haben. Auch ihr seid Entsagende. Und die Menschen können sich ändern, wißt Ihr.«
Ja , dachte Carlina, wenn sich Bard so sehr ändern kann, ist Hoffnung, daß es jedermann auf dieser unruhigen Welt vermag! Ich muß mit Varzil darüber sprechen; als Bewahrer von Neskaya hat er vielleicht einige Antworten für uns .
Melora sagte: »Verzeiht mir, Mutter …« – damit benutzte sie den gegenüber einer Priesterin gebräuchlichen Ehrentitel – »… aber Ihr seid die Prinzessin Carlina, nicht wahr?«
»Das war ich. Ich habe diesen Namen vor vielen Jahren abgelegt.« Mit Schrecken dachte Carlina daran, daß sie nach gültigem Gesetz legitim mit Bard verheiratet war. Und wenn Bard sie nun geschwängert hatte! Was sollte ich mit einem Kind anfangen? Mit seinem Kind?
»Das dachte ich mir. Ich sah Euch einmal beim Mittsommerfest, aber ich glaube nicht, daß Ihr mich gesehen habt. Ich war nur Meister Gareths Tochter …«
»Ich habe Euch gesehen. Ihr tanztet mit Bard.« Da auch sie Laran hatte, setzte Carlina hinzu: »Ihr liebt ihn, nicht wahr?«
»Ja, doch er weiß es noch nicht.« Plötzlich kicherte Melora nervös. »Man hat mir erzählt, der Lord General sei gestern gekrönt und verheiratet worden. Und nach dem Gesetz seid Ihr, die Ihr bereits mit ihm verlobt wart, ebenfalls seine Frau. Deshalb hat er im Augenblick mindestens eine legitime Frau zuviel. Ich bin überzeugt, er wird wenigstens von einer wieder frei sein wollen … und so, wie ich ihn kenne, von beiden. Vielleicht, Carlina – Mutter Liriel –, wird die Aufklärung dieses Mißverständnisses alles zum Guten wenden, denn irgendeine Entscheidung seiner Ehe wegen muß ja fallen.«
»Hoffen wir es.« Impulsiv ergriff Carlina Meloras Hand.
»Kommt und ruht Euch aus, vai leronis . Ich kann für Euch einen Platz bei den Hofdamen finden; diese schicke ich nach unten, damit sie sich um die Verwundeten und Kranken kümmern, und Ihr müßt schlafen.«
Bard di Asturien schritt inzwischen durch die Gänge der Burg auf die Räume zu, die er bewohnt hatte, seit Alaric gekrönt worden war und ihn zum Lord General ernannt hatte. Ein Wachposten stand vor der Tür und teilte ihm mit, der Lord General sei – vermutlich – anwesend.
Bard dachte einen Augenblick nach. Natürlich konnte er verlangen, daß man ihn, den Lord General, durch die Vordertür einließ. Die meisten Männer in der Armee kannten den Kilghard-Wolf vom Sehen. Aber er war zu dieser Konfrontation noch nicht ganz bereit. Deshalb ging er über einen Korridor zu einem Hintereingang, von dessen Vorhandensein nur einige wenige seiner Männer wußten, zu denen er volles Vertrauen hatte.
Er durchquerte die Zimmer, als habe er sie nie zuvor gesehen. Das hatte er auch nicht; der Mann, der noch vor ein paar Nächten hier geschlafen hatte, war ein anderer gewesen. Sie lagen im Bett des großen Schlafzimmers, Paul auf dem Rücken, und Bard betrachtete sein eigenes Gesicht mit seltsamem, leidenschaftslosem Interesse. Melisandra schmiegte sich an ihn, den Kopf auf seiner Schulter, und selbst im Schlaf hatte die Art, wie Paul seinen Arm um die Frau gelegt hatte, etwas Beschützendes. Ihre roten Locken waren
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