Die Zeit der hundert Königreiche
aufgelöst und bedeckten Pauls Gesicht.
Hätte er sie vorher so gefunden, in seinem eigenen Schlafzimmer, dachte Bard gleichmütig, dann hätte er keine Sekunde gezögert, seinen Dolch herauszureißen und ihnen die Kehlen durchzuschneiden. Selbst jetzt kam ihm dieser Gedanke einen Augenblick lang gar nicht so abwegig vor. Paul hatte versucht, den Thron zu usurpieren. Er war in Bards Namen gekrönt worden, und indem er sich vor den Augen des halben Königreichs mit Melisandra trauen ließ, hatte er den Thron von Asturias mit einer Königin versorgt, die nun in aller Öffentlichkeit wieder abgesetzt werden mußte. Selbst wenn Paul bereit war, auf die Identität des Lord Generals zu verzichten, blieb Bard immer noch mit Melisandra verheiratet. Welche Verwicklungen! Und mit dem, was Bard getan hatte, hatte er Carlina zu seiner gesetzmäßigen Frau gemacht, und auch sie konnte er nicht in aller Öffentlichkeit wiederabsetzen! Im Namen aller Götter, wie sollte er diese Probleme lösen? Bard überlegte kurz, ob er das Zimmer ebenso leise wieder verlassen sollte, wie er es betreten hatte. Sollte er sein Pferd nehmen und in die Berge davonreiten? Er wollte das Königreich Asturias nicht. Selbst der Schock über den Tod seines Vaters und Alarics hatte ihm die Überzeugung nicht genommen, man werde einen anderen König finden. Jenseits des Kadarin gab es viele kleine Königreiche, und er hatte sich schon einmal seinen Lebensunterhalt als Söldner verdient …
Aber was wurde aus seinen Männern, wenn er das tat? Paul besaß weder das notwendige Wissen, noch hatte er Interesse daran, für sie zu sorgen. Was wurde aus Carlina, aus dem Versprechen, das er der Schwesternschaft vom Schwert gegeben hatte, aus Melisandra, aus Melora? Nein, er hatte hier immer noch Verantwortungen. Und schließlich hatte er Paul ausdrücklich aufgetragen, den Platz des Lord Generals auszufüllen. Vielleicht hatte Paul einfach Bards Namen und guten Ruf geschützt – denn welchen Eindruck hätte es wohl gemacht, wäre bekannt geworden, daß der Lord General zur Zeit des heimtückischen Angriffs auf Burg Asturias davongelaufen war, um sich seiner Verbrechen wegen an der Schulter einer Frau auszuweinen? Paul mußte eine Chance bekommen, das alles zu erklären; er konnte ihn nicht im Schlaf töten.
Bard beugte sich über Melisandra und betrachtete mit einer Zärtlichkeit, die ihn selbst erstaunte, die auf ihren Wangen ruhenden rötlichen Wimpern, die vollen Brüste, über denen das dünne Nachtgewand – so dünn, daß die Haut rosig durchschimmerte – in durchsichtigen Falten lag. Sie hatte ihm Erlend geschenkt, und schon dafür mußte er ihr immer Liebe und Dankbarkeit erweisen.
Dann rüttelte er Paul leicht an der Schulter.
»Wach auf«, sagte er.
Paul fuhr im Bett in die Höhe. Sofort hellwach, erblickte er Bards angespanntes Gesicht und wußte, daß er in unmittelbarer Lebensgefahr war. Sein erster Gedanke war, Melisandra zu schützen. Er sprang aus dem Bett und stellte sich zwischen sie und Bard. »Nichts von allem ist ihre Schuld!«
Bards Lächeln überraschte ihn. Bard sah richtig belustigt aus! »Das weiß ich«, sagte er. »Was auch geschehen mag, ich werde Melisandra nichts tun.«
Paul entspannte sich ein bißchen, blieb aber auf der Hut. »Was tust du hier?«
»Das hatte ich eigentlich dich fragen wollen«, antwortete Bard. »Schließlich ist es mein Zimmer. Wie ich hörte, hat man dich heute nacht gekrönt. Und … verheiratet. Mit Melisandra. Kannst du es mir verübeln, wenn ich mir meine Gedanken darüber mache, ob du Absichten auf den Thron von Asturias hast? Gestern abend hat man mich fast nicht in die Burg hineingelassen, weil man mich für einen Betrüger hielt.«
Aus irgendeinem Grund, merkte Bard jetzt, sprachen sie beide im Flüsterton. Aber trotzdem weckten ihre Stimmen Melisandra auf. Sie setzte sich im Bett hoch, und das Haar flutete ihr über die Brust. Mit großen Augen starrte sie Bard an. Ihre Worte überstürzten sich: »Bard! Nein! Tu ihm nichts! Er hatte nicht die Absicht …«
»Laß ihn selbst erklären, welche Absichten er hatte!« fuhr Bard sie an, und seine Stimme war wie Stahl.
Paul knirschte mit den Zähnen. »Was hätte ich deiner Meinung nach tun sollen? Die Ratgeber kamen zu mir, sie sagten, ich sei der König, sie verlangten von mir, daß ich Melisandra heirate! Sollte ich da vielleicht antworten: O nein, ich bin nicht der Lord General, der Lord General wurde zuletzt dabei gesehen, wie er nach Neskaya
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